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Arbeit in den Städten suchen

In China sind auch in diesem Jahr wieder Millionen von Menschen unterwegs in die reicheren Provinzen/ Städte können die ländlichen Arbeitslosen nicht auffangen  ■ Aus Peking Boris Gregor

Sie sind wieder unterwegs — Abertausende Chinesen, Männer, Frauen, Jugendliche, mit von der Sonne gebräunten Gesichtern, mitunter in zerschlissener Kleidung, das Bündel der wenigen Habseligkeiten mit einer Strippe auf den Rücken gebunden. Ihr Ziel ist zum Beispiel Peking, wo sie sich derzeit am Chongwen-Tor versammeln, aber auch Fuzhou oder Xiamen im Süden der Republik. Am meisten haben sich in den jüngsten Tagen auf dem Bahnhofsvorplatz der Metropole Kanton zusammgefunden: WanderarbeiterInnen aus den armen Provinzen auf der Suche nach einem Job.

Doch nur wenige haben Glück und finden eine Anstellung als Kindermädchen oder als Hilfsarbeiter auf dem Bau — schlecht bezahlt und nicht selten schlecht behandelt.

Die Behörden stehen dem Ansturm, der sich alle Jahre wiederholt, wie stets nahezu hilflos gegenüber. Auf eilig zusammengerufenen Sondersitzungen beraten sie pausenlos die Lage. Beamte in den Provinzen Sichuan, der Mao-Heimat Hunan oder Guizhou versuchen derzeit auf den Bahnhöfen, die Arbeiter von der Reise in die Städte abzuhalten. In der Regel setzt die Polizei die Ankömmlinge nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Busse und Bahnen und schickt sie in ihre Heimatdörfer zurück.

Doch in diesem Jahr funktioniert diese Methode schlecht: Es sind mehr Menschen als in den vergangenen Jahren abzutransportieren. Nach dem Frühlingsfest Mitte Februar erreichten an einem Tag im Schnitt über 30.000 Arbeiter Kanton. Die Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, sind gering. Die Landleute können oft nicht lesen und schreiben, sie haben auch keinerlei Idee, wer überhaupt Stellen offerieren könnte. Derzeit übertrifft das Angebot an Arbeitskräften in der Stadt ohnehin die Zahl der Posten. So ist es Betrieben und privaten Geschäftsleuten verboten, ohne Erlaubnis „Gastarbeiter“ zu beschäftigen.

Ursache der alljährlichen Völkerwanderung: die stetig steigende Arbeitslosigkeit auf dem Lande. Insgesamt, so lauten Schätzungen, sind in den Dörfern im Reich der Mitte zeitweise rund 100 Millionen Menschen ohne Beschäftigung, etwa 70 Millionen davon setzten sich in Bewegung, um in den Städten Lohn und Brot zu finden. Dabei sind häufig vage Gerüchte über Arbeitsmöglichkeiten Auslöser der Massenbewegungen.

Chinas Kommunisten sind aufs höchste beunruhigt. Doch sie können kaum anderes tun als immer wieder von neuem Notbeschäftigungsprogramme für die Provinzen zusammenzuzimmern, die aber bereits Makulatur sind, wenn sie die Schreibtische der Bürokraten noch gar nicht verlassen haben, denn in den nächsten fünf Jahren wächst das Heer der Werktätigen jährlich um 15 Millionen.

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