: Antisemitismus auf beiden Seiten
■ Über eine Tagung der Evangelischen Akademie Berlin zur Religionsfrage in der UdSSR
Am 1.10.1990 verabschiedete das Parlament der UdSSR ein neues Religionsgesetz für die Sowjetunion, das die Rechte der religiösen Gemeinschaften verbessert.
Aufgrund der bisher einzig gültigen Doktrin des „wissenschaftlichen Atheismus“ als notwendigem Bestandteil des Marxismus-Leninismus, galten die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften als absterbende und zu bekämpfende Teile eines überholten Gesellschaftssystems. Damit ist es nun vorbei; Religion wird ein anerkannter Teil des gesellschaftlichen Lebens.
Wie sehr sich das Thema der Religion geradezu als Seismograph für die divergenten Strömungen erweist, die zur Zeit in der Sowjetunion das Bild bestimmen, wurde auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin zur „Neuen Diskussion um die Religionsfrage in der UdSSR“ deutlich.
Im Sinne einer funktionalen Bestimmung von Religion haben die herrschenden Kräfte um Gorbatschow durchaus ein Interesse an den Kirchen. Befaßt mit den „allgemeinen Werten, die allen gemeinsam sind“, können sie als integrierender und konsolidierender Faktor in der Gesellschaft nützlich sein, um die auseinanderdriftenden politischen und nationalen Kräfte zusammenzuhalten. Mit der Gewährung von mehr Rechten soll daher die Gegnerschaft zwischen Kirchen — allen voran der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) mit circa 20 bis 50 Millionen Mitgliedern — und Staat beigelegt werden. Zugleich bleibt im Religionsgesetz der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat beibehalten; auch Privilegien wie Religionsunterricht an Schulen sind nicht vorgesehen. Damit soll umgekehrt auch einem zu großen Einfluß und Machtzuwachs der Kirchen, insbesondere der ROK, ein Riegel vorgeschoben werden.
Ob die Rechnung aufgeht, ist fraglich. Die ROK jedenfalls präsentiert sich erstarkt und selbstbewußt. Ihr gehen die Bestimmungen im neuen Religionsgesetz nicht weit genug. Sie fordert Religionsunterricht an den Schulen, das Recht auf religiöse Zeremonien bei staatlichen und militärischen Anlässen — Dinge, die zurückweisen in ihre traditionelle Rolle als Staatskirche im zaristischen Rußland.
Daß tatsächlich zumindest in Teilen der ROK eine direkte Anknüpfung an die Zeit von vor 1917 angestrebt wird, machte der Beitrag des Vertreters der ROK, Erzpriester Baschkirow aus Berlin, auf der Tagung deutlich. Sein Geschichtsbild war sehr klar: 70 Jahre „schreckliche Geschichte“ liegen hinter Rußland, in denen Kirche nur als „Märtyrerkirche“ überlebt habe. (Daß es neben Verfolgung auch zahlreiche Loyalitätserklärungen gegenüber dem sowjetischen Staat gegeben hat, wollte er nicht wahrhaben, beziehungsweise tat es als verirrte Meinungsäußerungen einzelner ab.) Die zaristische Zeit hingegen bedürfe einer Neubewertung: Daß es im ganzen Land vor 1917 nur 36.000 Polizisten gegeben habe, zeuge vom positiven sittlichen und moralischen Einfluß der Kirche. Ein Schuft, wem sich dabei der Gedanke aufdrängt, daß es vielleicht wirklich keines großen Polizeiaufgebotes mehr bedarf, wenn die Kirche selbst flächendeckende Spitzel- und Denunziantenfunktion übernimmt!
Daß die Sehnsucht zurück zu den guten alten vorrevolutionären Zeiten nicht nur die Meinung eines Ewiggestrigen ist, bestätigte Dr. Olga Boitsowa, Religionswissenschaftlerin aus Moskau. Sie unterschied drei große Strömungen in der heutigen Sowjetunion:
1. Die ausdrücklich proreligiösen Bewegungen, die sich in der Regel mit rückwärts orientierter politischer Ideologie verbinden. Statt des verordneten Atheismus soll die (russisch-orthodoxe) Religion obligatorische Staatsdoktrin werden und die ROK in ihre alte Rolle als Staatskirche wieder eingesetzt werden.
Gerade ehemals kirchenferne Intellektuelle fühlen sich von der ROK angezogen, die ihren sozialen Rückhalt traditionell in der Bauern- und Arbeiterschicht hatte, nicht aber in der bürgerlichen Mittelschicht. Religionsphilosophen der zwanziger Jahre wie Berdjajew werden wiederentdeckt; theosophisches, anthroposophisches und esoterisches Gedankengut jeder Couleur haben Konjunktur — ein Phänomen, das ja auch im Westen in Krisenzeiten bekannt ist. In der Sowjetunion paart es sich jedoch mit tiefer verwurzelten Tendenzen der russisch-orthodoxen Frömmigkeit, die immer schon einen stark mystischen und bodenbezogenen Einschlag hatte. Die religiöse Überhöhung des „heiligen Rußland“, die Verklärung der naturwüchsigen Religiosität des russischen Dorfes als „Quell echter Sittlichkeit“ verbinden sich mit einem Ressentiment gegen westliche Zivilisation und städtisch-urbane Kultur als dem russischen Menschen eigentlich wesensfremd. In dieser Richtung äußern sich ja auch prominente Wortführer wie Alexander Solschenizyn. Boitsowa wies darauf hin, daß heute keine wichtige Person des öffentlichen Lebens es sich mehr leisten könne zu sagen, sie sei „nicht gläubig“.
Besonders brisant stellt sich in diesen Kreisen die Frage der nicht- russischen Nationalitäten und anderer Minderheiten dar; insbesondere gibt es ausgeprägten Antisemitismus.
2. Auf der anderen Seite findet sich der strenge Atheismus in Form der traditionellen sowjetischen Staatsdoktrin bei den Gruppierungen, die den Weg seit dem Amtsantritt Gorbatschows im Jahre 1985 als Ausverkauf des wahren Sozialismus geißeln und auf allen Ebenen zu den Zeiten vor der Perestroika zurückkehren wollen.
Auch diese Strömung ist massiv antisemitisch. Interessanterweise enthält die Pamjat-Bewegung beide „Flügel“ in sich, den zaristischen und den stalinistischen, geeint durch Judenfeindschaft und die Sehnsucht nach einem einheitlichen starken Reich.
3. Zwischen diesen beiden Flügeln hoffen die derzeitigen Machthaber auf die integrierende Kraft der Religion als Beitrag zur Überwindung der Krise.
„Allgemeingültige, ewige Werte“ sind zur Zeit mehr gefragt als konkrete Gesellschaftsanalyse, geschweige denn Auseinandersetzung mit dem Marxismus — so Olga Boitsowa. Almut Kramm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen