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Antiaufklärerische Kampagne

■ betr.: „Sexueller Mißbrauch wird zur Delikatesse“, taz vom 21.1.94, (Berliner Lokalteil), „Sexueller Mißbrauch polemisch aufberei tet“, taz vom 24.1.94

Herrn Senator Thomas Krüger im Senat für Jugend und Familie, Berlin

[...] Auf der Tagung erfuhr ich, daß viele Frauengruppen und Gruppen, die seit Jahren unermüdlich und erfolgreich auf diesem Gebiet arbeiten, vor allem Wildwasser (Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen e.V.), nicht eingeladen werden, daß sich aber bestimmte sogenannte ReferentInnen kritisch mit der Arbeit von Wildwasser (Abschlußbericht, Modellprojekt Beratungsstelle Bd. 10 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Frauen und Jugend) „auseinandersetzen“ wollten.

Ich weiß, daß die Arbeitsgemeinschaft Wildwasser an einer kritischen Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftlichen Ansätzen und praktischen Erfahrungen zum Thema „Sexueller Mißbrauch“ sehr interessiert ist. Die Tagung aber war so organisiert, daß (einseitig) fast nur ReferentInnen zu Wort kamen, die die tatsächlich epidemieartige Gefährdung von Kindern und Frauen durch die Gewalt von erwachsenen Männern – es sind zu 98 Prozent Männer die entsprechenden Täter – leugnen oder bagatellisieren wollten. Sie sprachen von Mißbrauchspanik und „Verdächtigungshysterie“.

Prof. Reinhart Wolff sprach von „Mißbrauchshysterie“ und Katharina Rutschky von „Mißbrauchsfolklore“. Diese brutale Sprache und infame Diktion muß angesichts der enormen Zahl von durch Gewalt, Totschlag und Wahnsinnigmachen (Leugnen, Verschweigen, Geheimhalten) bedrohten Frauen, Mädchen und Jungen aufs schärfste zurückgewiesen werden.

Genau das taten am 20.1.94 eine Gruppe von etwa 100 Personen. Sie protestierten und störten – meiner Meinung nach einfühlbar und zu Recht – die Kampagne gegen die Aufdeckung sexueller Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen – genau wie Reinhart Wolff, den ich seit 1968 kenne, dies zwischen 1969 und 1971, als Mitglied des SDS, an der Freien Universität auch wiederholt getan hat.

Prof. Wolff hat durch seine zwangsneurotische Geheimhaltungsstrategie genau diese Reaktion heraufbeschworen und also vorgeplant. Er will offenbar heute auch einmal als Märtyrer reüssieren. Die „Tumulte“ gehen voll auf sein Konto, die „Rempeleien“ waren vor allem durch seine Anhänger inszeniert worden.

Sachlich gesehen wird es tatsächlich einige wenige Fälle geben, in denen der Vorwurf des Kindesmißbrauchs durch einen Ehepartner instrumentalisiert wird, zum Beispiel auch in Scheidungsverfahren, um „Böses“ auf „Täter“ zu projizieren. Aus meiner eigenen praktischen Erfahrung heraus kann ich nur sagen, daß derartiges nur in verschwindend wenigen Fällen stattfindet, während Kinder und Frauen – ich rechne damit, daß mindestens jede dritte Frau irgendwann in ihrem Leben sexuell gewalttätig von einem Mann verletzt wurde – in ganz ungeheurem, extrem höheren Maße der Gewalt von erwachsenen Männern ausgesetzt sind.

Aber emotionalisiert haben die Tagung nicht sogenannte „Gegner“ der Veranstaltung – meiner Einschätzung nach zu Recht aufgeregte Frauen und Männer –, sondern die ansonsten absolut cool wirkenden Wolff und Rutschky. Letztere laviert-erregte Polemikerin sah und hörte ich zum Beispiel mit eigenen Augen und Ohren einen sachlich arbeitenden, völlig ruhig bleibenden Fotografen in unflätigster, hier unbeschreiblicher Weise, ohne jeden realen einfühlbaren Anlaß, beschimpfen.

Wolff und Rutschky müssen unbedingt auch ihren politischen Widerstand erfahren, damit die ermutigende Erfahrung, daß immer mehr mißhandelte Mädchen und Jungen sich Personen ihres Vertrauens offenbaren, nicht bedroht wird und daß attackierte Kinder nicht wieder noch mehr – diesmal wieder durch patriarchalische Wissenschaft abgesichert – verunsichert werden.

Prof. Wolff und Frau Rutschky wollen nach meinem Eindruck nicht aufklären, sie sind nicht am wissenschaftlichen Diskurs, sondern an antiaufklärerischen Kampagnen interessiert. [...] Dr. Dr. Wilfried Wieck, Berlin

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