: Anstand und Ehrlichkeit
■ Rocchigiani ist ein Glückskind: Nach "technischem" Remis gegen WBO-Weltmeister Michalczewski geht die Show weiter
St. Pauli (taz) – Joseph G. O'Neill ist keiner, den man so einfach beiseite schieben kann. „Ich sagte: break“, sagte der Ringrichter. Überhören kann man ihn schon gar nicht. Oder? „Mein Mund war weit geöffnet. Sieht der aus, als kämen da Blasen raus?“ Der sah nicht aus, als kämen Blasen raus.
Ganz und gar nicht. „Ich sagte: break!“ Er schrie es vor: BREAK! „Die hörten mich. Der eine Kämpfer nahm die Hände runter, der andere Junge schlug zu. Ich sagte: Du hast ihn gefoult.“
Der andere Junge ist natürlich wieder Graciano Rocchigiani. Es passierte in Runde sieben der WBO-Halbschwergewichts-WM, als O'Neill den Kampf unterbrochen zu haben glaubte, Herausforderer Rocchigiani aber noch einen linken Haken landete.
Der Ringrichter verwarnte ihn. Als er sich umdrehte, mußte er sehen, wie der Weltmeister Dariusz Michalczewski just bemüht war, sich mit Hilfe der Seile aus seiner Bodenlage zu befreien. O'Neill zählte ihn an. „Ich wollte ihn nicht auszählen“, sagt er, „ich wollte herausfinden, ob er okay ist. Ich zählte bis acht. Dann rief ich den Arzt.“
Michalczewski war nicht okay, sagte der – und der Kampf damit zu Ende. „Technisches Unentschieden“ nannte das Kampfgericht das. Nun wird natürlich endlos gezetert (siehe nebenstehende Dokumentation). War der Schlag „illegal“, wie es der Weltverbandspräsident Francisco Valcarcel entschied? Oder war er unabsichtlich, wie es Rocchigiani behauptet? Frage 2: Wenn er illegal war, hätte dann nicht Rocchigiani disqualifiziert werden müssen? War er unabsichtlich, hätte nicht Michalczewski nach einer Fünfminutenpause weiterboxen müssen? Und da er nicht konnte: Hätte man in diesem Fall nicht zu den Punktrichtern gehen müssen und denjenigen zum Sieger erklären, der nach sechs Runden vorne lag? Also Rocchigiani, der bei zwei Punktrichtern 58:56 führte. Oder spielt es keine Rolle, ob er illegal oder unabsichtlich war, und gilt die Regel, die Valcarcel die ganze Nacht zitierte: „Der verletzte Kämpfer kann den Kampf nicht verlieren“?
Aber: Hätte Dariusz Michalczewski eigentlich „weiterboxen können“, wie es Rocchigianis Trainer Emanuel Steward („tief in meinem Herzen“) vermutete? Und tat er es nicht, weil er ahnte, daß es nicht gut um ihn stand?
Vielleicht ist es so, daß all diese Fragen fürchterlich in die Irre führen. Weil sie davon ausgehen, daß Profiboxen Sport ist. Und daß der Sport die bessere Welt ist, weil in ihm Sieg und Niederlage, Reichtum und Armut, Heldentum und Verderben nach klaren Regeln entschieden werden. Um diesen Glauben aufrechterhalten zu können, sucht man den Regelverstoß. Der Nachweis des Verstoßes soll beweisen, daß im Prinzip Regeln gelten.
Ein Regelverstoß kann einen unangenehmen Effekt haben, aber auch einen angenehmen. „Sie sehen mich hier wirklich völlig unglücklich“, sagte Klaus-Peter Kohl, dem das Unternehmen Michalczewski gehört. Er sah völlig unglücklich aus. „Ich glaube, es gibt hier nur eins“, sprach er mit fester Stimme. Und als ein unfreundliches Lachen einsetzte, sagte er: „Da brauchen Sie nicht zu lachen: ein Rematch.“
Ein weiterer Kampf ist die Möglichkeit, eine kurzfristig ungerecht gewordene Welt zurückzuführen in eine gerechte. Ein weiterer Kampf ist aber im übrigen auch ein weiterer Kampf.
In sechs Wochen hört Henry Maske auf. Mit Axel Schulz ist selbst bei großzügiger Auslegung aller Regeln nicht unbedingt zu rechnen, WBO-Cruisergewichts- Weltmeister Ralf Rocchigiani ist keine ganz große Nummer. Michalczewski (28) aber ist und bleibt ungeschlagener WBO-Weltmeister. Er erwies sich bloß erneut und noch klarer als sonst als stark limitierter Boxer.
Rocchigiani hatte zuletzt viermal gegen richtige Gegner geboxt, nie gewonnen. Diesmal genügte ihm die übliche Doppeldeckung und hie und da ein linker Haken gegen den unkontrollierten Michalczewski, um nach Punkten zu führen. „Er hat so geboxt, wie wir es erwartet haben“, sagt Rocchigiani, der zuletzt von Maske locker ausgeboxt worden war. Von Michalczewski wurde er nicht einmal richtig getroffen.
Was damit gesagt sein will: In der Branche gibt es eigentlich nur das Qualitätsprodukt Maske (vom Konkurrenzunternehmen Sauerland). Daß Michalczewski – und selbst Rocchigiani (WBO-Nr. 6) mit seinen drei Niederlagen – St. Paulis Millerntor mit 25.000 Leuten füllen können, muß man auch unabhängig von der tatsächlichen boxerischen Qualität der beiden und im Zusammenhang mit Maske und den Ausläufern der Branchenkonjunktur sehen.
Wie es genau weitergehen wird, weiß keiner. Das derzeitige Motto wird in etwa lauten: Ein Kampf geht noch. Geht immer. „Aus. Ende. Ich glaube, die kommen gar nicht um den Rückkampf rum“, sagte Rocchigiani. Wer glaubt, der Sohn eines sardischen Eisenbiegers habe nur mal wieder seine tragische Metapher vom ewig benachteiligten, gesellschaftlichen Außenseiter ausgemalt, muß umdenken. Rocchigiani (32) ist ein Glückskind, dem die Konjunktur nach nun 1,2 Millionen demnächst zum vierten Mal einen Brutto-Millionenbetrag rüberreichen wird.
WBO-Präsident Valcarcel ist übrigens Anwalt. „Ich arbeite jeden Tag mit Paragraphen, manchmal verstehe ich sie auch nicht“, sagt er. Und Joseph O'Neill, erfahren in 51 WM-Geschäften, verstand die Aufregung sowieso nicht. „Was wollt ihr, Leute?“ fragte er. Der US-Ringrichter fuhr sich mit der Hand über den teils kahlen, teils kahlgeschorenen Kopf: „Es gibt sowieso einen Rückkampf.“ Sein Präsident lachte und klopfte ihm auf den fetten Bauch.
Von der breiten Brust des Ringrichters sprangen drei Worte in das Auge des Betrachters. Dignity. Democracy. Honesty. Deutsch: Anstand, Demokratie, Ehrlichkeit. Es handelt sich um mehr als drei Worte. Es handelt sich um das Motto des Box-Weltverbandes WBO. Peter Unfried
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