■ H.G. Hollein: Ansprache
Die Frau, mit der ich lebe, hat ein selektives Gedächtnis. Vor allem, was Namen angeht. So begrüßt sie den Nachbarn über uns stets – aufs Herzlichste – mit „Hallo, Herr Ahrens“. Nur dass selbiger Herr Raabe heißt und einen Stock höher wohnt. Und das schon seit über 15 Jahren. Letztlich, so findet die Gefährtin, ist eben alles Schall und Rauch. Aus Mertins wird Martens und ein Hauptmann zum Hausmann. Briefe schreibt die Gefährtin in weiser Selbsterkenntnis deshalb schon lange nicht mehr. Zu viele ihrer Episteln kamen als unzustellbar zurück. So recht problematisch wird dieser an sich liebenswerte Tick allerdings, wenn die Gefährtin auf Urlausbsfahrten die Karte in Händen hält. Da navigiert sie uns schon mal zwischen Am- oder Ammerbach – „Is doch egal“ – ins Blaue. Amberg hätte ja gereicht, aber nach der ersten Silbe weiß es der Gefährtin Gedächtnis eben besser. Dass sie Kirk Douglas für Cary Grant hält – „Die sind nun wirklich nicht zu unterscheiden“ – mag vor dem Fernseher zu diesem oder jenem lustigen Wortgeplänkel führen, aber mit den Jahren ist in mir denn doch eine drängende Frage aufgestiegen: Wer bin ich eigentlich in den Augen der Gefährtin? Mein Vorname mag in seiner doppelten Banalität zwar die Tür zu allen möglichen Assoziationen öffnen, allein Hans Jürgen, Karl Heinz und Hans Werner gehen der Gefährtin für meinen Geschmack ein bisschen zu beiläufig von den Lippen. Erhärtet hat sich mein Verdacht in letzter Zeit nicht zuletzt durch das träumerische Ansinnen der Gefährtin, ob man sich in gewissen Situationen nicht siezen könne. Das hätte so etwas Verrucht-Französisches. Ich glaube ja eher, dass die Gefährtin einfach nur die Klippen des ein oder anderen nomenklatorischen Fehlgriffs elegant umschiffen will.
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