: Angst und Schrecken vor Voyeuren
■ Seit den antiautoritären Aufklärern der 70er Jahre hat sich der Blick auf Sexualität gewandelt: Sind Bilder von nackten Kindern obszön – oder ihre Betrachter?
Obwohl die Debatte über Pornographie um Will McBrides Aufklärungsbuch „Zeig mal!“ es nahelegt: Zensur findet nur selten statt. Und selbst die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft ermittelt, nehmen sich kurios aus.
So wurde im März 1992 in Bielefeld ein Safer-Sex-Plakat der Deutschen Aids-Hilfe abgehängt, weil es zwei Männer beim Oralverkehr zeigte. Das Poster war zwei Jahre zuvor von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung genehmigt, finanziert und mit 10.000 Exemplaren vertrieben worden. Auch in Bayern. Ob es sich dabei tatsächlich um Erregung öffentlichen Ärgernisses handelte, wurde juristisch genau ermessen – als pornographisch gelten Darstellungen von nackten Männern dann, wenn sich darauf ein Penis mehr als 45 Grad nach oben reckt.
Wie immer solche Richtlinien gesetzlich festgelegt werden, die Forderung nach Zensur gründet sich meist auf ein interpretatorisches Unvermögen, das zwischen Aufklärung über den Gegenstand und dessen Darstellung nicht trennen kann. Als Larry Clark 1995 seinen Film „Kids“ drehte, wurde ihm vorgeworfen, er verherrliche – wie schon auf seinen Fotos der siebziger Jahre – jugendlichen Sex und mache sich und sein Publikum damit zum Voyeur.
Die Argumentation setzt eine Instrumentalisierung des jugendlichen Körpers bereits voraus, für die der Film bloß als Beleg herhält. Es scheint für die KritikerInnen erwiesen, daß Clark den Teenagersex für Erwachsene glorifizieren wollte. Daß „Kids“ womöglich nur gängige Praktiken unter Jugendlichen dokumentieren wollte, kommt bei diesem Urteilsspruch nicht in Frage – obwohl Sexualität das vermutlich einschneidende Ereignis des Erwachsenwerdens ist. Auch für spätere KritikerInnen. Die Handlung, von der Clark ausgeht, läßt zumindest keine Zweifel. Die Geschichte ist aus der Sicht seiner Hauptdarstellerin Chloe erzählt, die von einem Aufreißertypen HIV-infiziert wurde.
Offenbar hat die Diskussion um Will McBrides „Zeig mal!“-Buch noch einen anderen Hintergrund: Es sind Zeitzeugnisse einer Generation, die mit mehr Mut zur Zärtlichkeit gegen Vietnam demonstrieren wollte. Auch Jock Sturges, dessen Fotos aus Nudistencamps vorrangig Pubertierende zeigen, hält seine Aufnahmen für Sittenbilder im Idealzustand: „Es ist wunderbar, daß diese Kinder so frei aufwachsen“, kommentierte er seine Fotos im Stern, der prompt die Frage nach „Skandal oder Kunst?“ (13.6. 1996) stellte.
Von heute aus muten diese Versuche eher wie ein naives Bekenntnis zu antiautoritären Lebenswelten an, das bei der Jungen Union in Wuppertal auf ähnliche Skepsis stößt wie bei Vertretern einer linken political correctness in den USA oder hierzulande. Sexuelle Bilder, so der Verdacht, scheinen sich per se an ein Bedürfnis zu richten, daß mit der Darstellung befriedigt wird. Genau dagegen richten sich die Fotostrecken von Will McBride: Jedes Bild ist von einem kurzen Kommentar begleitet, vorsichtigen Gesprächen zwischen Eltern und ihren Kindern über die Unwägbarkeiten einer Sexualität, die das Kind mehr sieht als empfindet.
Der kleine Unterschied – ein Skandal? Indem die Zensoren auf die Darstellung abheben, machen sie den Trugschluß mit, vor dem sie durch den Eingriff schützen wollen. In „Zeig mal!“ wird eine Geschichte erzählt, die den Körper eben nicht von Erfahrungen abschirmen will. Harald Fricke
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