■ Vorschlag: Anatoliens Seele in der Philharmonie
Ausgerechnet am 3. Oktober letzten Jahres, dem „Tag der deutschen Einheit“, bot sich dem Besucher der Philharmonie das Bild eines perfekten orientalischen Chaos: Trauben türkischer Musikliebhaber drängten sich in der Eingangshalle, zahlreiche versuchten vergeblich, am Schalter noch Eintrittskarten für das restlos ausverkaufte Konzert zu ergattern. Szenen, bestenfalls mit denen vergleichbar, die sich jedes Wochenende am Flughafen Tegel abspielen, wenn Charterflüge nach Istanbul oder Ankara starten. Ein kultureller Höhepunkt für den türkischsprachigen Teil der Stadt stand bevor – und wie so oft, fast unter völliger Abwesenheit der deutschen Öffentlichkeit. Sehr zum Leidwesen des Veranstalters: Der Musiker Adil Arslan hat sich schließlich auch zum Ziel gesetzt, das anatolische Saiteninstrument Baglama „vor allem der deutschen Bevölkerung vorzustellen“. So heißt es in der Vereinssatzung der „Berliner Baglama Gemeinschaft“, deren Gründer Arslan ist. Unermüdlich wirbt er um Interesse und läßt auch gerne hochkarätige Baglama-Interpreten in Berlin aufspielen. Meister aller Klassen ist in dieser Hinsicht Arif Sag, der nach nur sieben Monaten ein zweites Mal Berliner Boden betritt, um, gemeinsam mit Erol Parlak und Erdal Erincan als „Arif Sag Trio“, die Zuhörer in den Bann der Baglama zu schlagen.
Arif Sag ist eine Autorität, als Komponist, Interpret, Produzent und Arrangeur. Wenn er nicht gerade selbst auf der Bühne steht, zupft er zumindest im Hintergrund die entscheidenden Fäden. Ob Sezen Aksu, Zülfü Livaneli oder Ibrahim Tatlises: kaum eine aktuelle Produktion, bei der er nicht seine Finger im Spiel hätte. Als begnadeter Interpret alevitischer Musik, die untrennbar mit der Baglama verbunden ist, ist Arif Sag zudem eine Symbolfigur der türkischen Linken. Denn die Aleviten, abweichend vom orthodoxen sunnitischen Islam, verstehen sich von jeher als Opposition zu jedweder Obrigkeit. Ende der achtziger Jahre war Arif Sag Abgeordneter der sozialdemokratischen Partei, danach Berater des Kulturministers. Doch die Fortentwicklung und Pflege alevitischen Liedguts machen seine eigentliche Bedeutung als musikalischer Übervater aus.
Alevitische Musik ist meditative Musik, und so kommt es nicht bloß auf Virtuosität und Fingerfertigkeit an, sondern darauf, die „anatolische Seele“ dieser Musik zu erfassen. Ein Baglama-Konzert ist daher fast schon religiöses Zeremoniell. Wer daran teilhaben will und dabei auf die Abendkasse vertraut, muß allerdings etwas Glück haben – und eine gute Ellenbogentechnik. Daniel Bax
Arif Sag Trio, heute, 20 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie, Matthäikirchstraße 1, Tiergarten
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