Analyse: Rotes Trostpflaster
■ Frankreichs Regierung will soziale Ausgrenzung bekämpfen - per Gesetz
Seit Jahren zieht das Elend auch in Frankreich immer größere Kreise. Fast ebenso lange diskutiert das Land mit der starken etatistischen Tradition über ein Gesetz dagegen. Alle wollten es: Präsident Jacques Chirac, die Regierung Juppé I, die Regierung Juppé II und die Rot-Rosa-Grünen natürlich auch. Doch trotz dieser breitgefächerten Unterstützergruppen scheiterte das Projekt an immer neuen Hürden. Am weitesten gedieh es im April 1997, als es den Weg bis in eine parlamentarische Debatte schaffte. Doch dann warfen es die vorgezogenen Neuwahlen auf den Nullpunkt zurück.
Jetzt erlebt das „Gesetz gegen die soziale Ausgrenzung“ eine neuerliche Auferstehung. Die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry hat ein Vorhaben im Ministerrat eingebracht, dessen Inhalte und Zahlen alles vorher Dagewesene übertreffen. Sie will in den nächsten drei Jahren 51 Milliarden Francs (rund 15 Milliarden Mark) ausgeben, um die Ausgrenzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu bekämpfen: Die Arbeitslosigkeit, die Obdachlosigkeit, die unzureichende Gesundheitsversorgung und die Lücken im Bildungswesen. Daß die Inhalte ihres Gesetzes teilweise längst bekannte und bewilligte Maßnahmen sind und daß die Mittel dafür nur durch eine Umverteilung, nicht aber durch eine Aufstockung des französischen Haushaltes zustande kommen sollen, sagt Madame Aubry nicht so laut. Ebensowenig erklärt sie, wie beispielsweise die angekündigte staatliche „Gesundheitsversorgung für alle“ funktionieren soll, wenn ihre Regierung gleichzeitig ein öffentliches Krankenhaus nach dem anderen schließt.
In einem Land, in dem (nach offiziellen Statistiken) sieben Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, wo über die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung die Ausgrenzung als persönlich bedrohliche Perspektive empfindet und wo eine immer stärkere Arbeitslosenbewegung Furore macht, kann sich die Regierung kein längeres Nichtstun erlauben. Wenn dann auch noch binnen anderthalb Wochen Regional- und Kantonalwahlen anstehen, ist das politisch- kommunikatorische Ziel beinahe schon erreicht. Wie zum Beweis wollen in Paris jetzt plötzlich alle „schon immer dieses Gesetz“ gewollt haben – von Chirac über die Regierungsparteien bis hin zur konservativen Opposition.
Bloß die Arbeitslosenbewegung, die seit dem Beginn ihrer Proteste Ende vergangenen Jahres nicht lockergelassen hat, sorgt für kritische Töne in der Debatte. Sie kritisiert weiterhin, daß ihre Forderung nach einer generellen Anhebung der sozialen Minima nicht berücksichtigt wurde. Und daß die 51 (umgewidmeten) Milliarden von Madame Aubry auch nichts weiter sind als ein Trostpflaster, das nichts an der Grundmisere ändert. Dorothea Hahn
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