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Archiv-Artikel

Amerikanische Verhältnisse in Niedersachsen

Die Zahl der Kriminalitätsopfer steigt 2006 um 21 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Innenminister sagt, Schuld sei die zunehmende „Brutalisierung“ der Gesellschaft. Die sorgte in Hamburg aber nur für einen Zuwachs um 5 Prozent

Es ist jedes Jahr das gleiche Spielchen: Nach der Vorstellung der neuesten Kriminalstatistik streiten sich Regierung und Opposition über die Auslegung der Zahlen. So freute sich gestern Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann, dass trotz der Fußball-WM die Zahl der Straftaten in Niedersachsen 2006 nur leicht auf 604.000 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sei. Heiner Bartling (SPD) warf dem Minister dagegen vor, dass die Aufklärungsquote nicht wie angekündigt auf zwei Drittel der Fälle geklettert sei – dabei lag sie mit 55,6 Prozent immerhin gut zwei Punkte über jener zu SPD-Regierungszeiten.

Bemerkenswert dagegen der rapide Anstieg einer anderen Zahl aus der Statistik: Die Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden, hat sich in Niedersachsen im vergangenen Jahr stark erhöht. Die Zahl der in der Polizeistatistik erfassten Opfer von Mord, Vergewaltigung oder Raub stieg im Jahr 2006 um 21 Prozent auf 101.000. Im Vergleich zu 1997 hat sich die Zahl der von der Statistik erfassten Opfer in Niedersachsen – damals 55.000 – sogar fast verdoppelt. Schünemann sah darin gestern ein Zeichen zunehmender „Brutalisierung“ der Gesellschaft. „Auch früher wurde auf dem Schulhof gekabbelt“, sagte er. Heutzutage werde aber „brutal nachgetreten“. Das zeige vor allem die Zunahme von „Rohheitsdelikten“ wie Körperverletzung oder Nötigung um 6,7 Prozent. Davon gab es 2006 in Niedersachsen insgesamt etwa 51.000.

„Wir amerikanisieren uns“, sagt Veit Schiemann von der Opferorganisation Weisser Ring. Vor allem Jugendliche würden heute schneller die Schwelle zur Gewalt überschreiten als noch vor einigen Jahren. „Früher standen die Schüler stramm, wenn der Lehrer reinkam“, so Schiemann, „heute wird er auch schon mal von ihnen verprügelt.“ Als Ursachen nennt er mehrere Faktoren: Gewaltkonsum über die Medien, demotivierte Erzieher, sozialer Abstieg der Familien. Nur ein Zusammenwirken von Eltern, Schulen und auch Polizei könne diese Entwicklung stoppen.

„Der Anstieg der Opferzahlen in Niedersachsen ist allerdings mehr als außergewöhnlich“, wundert Schiemann sich. In Nordrhein-Westfalen und auch Hamburg habe es im vergangenen Jahr jeweils nur fünf Prozent mehr Opfer gegeben. Auch das Innenministerium in Hannover kann sich den Unterschied nicht erklären. „Vielleicht“, sagt Schiemann, „liegt es an einem besonderen Anzeigeverhalten.“KAI SCHÖNEBERG