: America rising
New York bereitet sich auf den Krieg vor. Die Medien der Millionenmetropole heizen die Stimmung weiter kräftig an. Einzig die liberale „New York Times“ übt sich noch in der Kunst des Differenzierens
aus New York DAVID SCHRAVEN
An der Ecke Roosevelt Avenue/82. Straße in Queens formen vier junge Latinos in Muskelshirts ein Herz aus brennenden Kerzen auf einem kleinen Platz. Hinter ihnen wehen amerikanische Flaggen, aus großen Lautsprechern dröhnt die amerikanische Nationalhymne in einer Endlosschleife. Vor ihnen steht eine Menschentraube. Eine alte Frau weint. „Das Böse wird bestraft“ steht auf dem Shirt, das einer der Männer trägt: „Wir werden in den Krieg ziehen“, sagt er mit erhobenem Kopf und lächelt.
Die Ruhe der ersten Tage nach dem Einsturz der Twin Towers ist dem Zorn gewichen. Ein Transporter fährt langsam die Avenue of the Americas hinab. An seinen Außenspiegeln sind zwei Flaggen befestigt. Eine schwarze Frau ruft: „Wir werden sie vernichten.“ Ein Unbekannter hat in der Nacht auf Samstag einen Molotowcocktail auf eine Moschee im Brooklyner Stadtteil Bensonhurst geworfen. Auf der 14. Straße steht ein Mann in kurzen Hosen und mit glatt rasiertem Schädel. Er trägt ein Plakat, das ihn fast ganz verdeckt: „Dear Pres Bush. Be a man and let our war dogs loose!“ – Lieber Präsident Bush, sei ein Mann und lass unsere Kriegshunde los!
Alle Fernseh- und Radiosender berichten immer das Gleiche – Tag und Nacht. Bei CBS sitzen die beiden Nachrichtensprecher vor einer wehenden amerikanischen Flagge. Auf ihr steht: „America rising“ – Amerika steht auf. Reporter interviewen Opfer, weinen in die laufenden Kameras. Ein Mann fragt mit erstickender Stimme: „Wir wollen Vergeltung. Wann schlagen wir zurück?“
Am Abend bringt CBS einen minutenlangen Trailer mit diesem Slogan. In Zeitlupe werden Bilder vom Ort der Katastrophe eingespielt, unterlegt von der Hymne „America the beautiful“. Eine tiefe Frauenstimme predigt: „Wir suchen Gerechtigkeit“, und es folgen Bilder von aufmarschierenden Soldaten. Von wehenden Fahnen über den Trümmern des World Trade Centers. Von startenden F-14-Militärjets auf Flugzeugträgern. Und dann die Stimme von George W. Bush: „Wir werden diesen Krieg gewinnen.“
Die Radiosender haben nach Tagen der Live-Berichterstattung aus New York und Washington ihr Musikprogramm wieder aufgenommen. Sie spielen patriotische Country-Songs. Und stündlich Bruce Springsteens „Born in the USA“.
Von den 50.000 einberufenen Reservisten geben einige Interviews. Einer sagt: „Wir werden unsere Feinde auslöschen.“ Jeden Tag um 8:42 Uhr wird die amerikanische Nationalhymne gespielt. Es ist die Minute, in der das erste Flugzeug in das World Trade Center raste.
Die liberale New York Times (NYT) ist die Ruferin in der Wüste. Im Editorial stellt das Intelektuellenblatt fest, „dass größere Anstrengungen als im letzten Golfkrieg notwendig sein werden, um die Regierungen auszutauschen, die in Irak und Syrien herrschen“. Statt auf nackte Waffengewalt müsse auf Diplomatie gesetzt werden, die allerdings mit militärischen Maßnahmen verbunden sein könnten. Nur so ließe sich eine wirkliche Änderung der Situation in den Terrorstaaten erreichen. „Mr. Bush und die Nation dürfen sich keine Illusionen machen über die Schlachten, die uns bevorstehen“, hieß es, und der gestrige Leitartikel, der nicht die individuelle Meinung eines Autors, sondern die Richtung des ganzen Blattes definiert, führt aus: „Amerika lebt nun im Kriegszustand gegen einen irrationalen, rachsüchtigen, schwer fassbaren Feind. [. . .] Die Verpflichtung zu handeln war nach Pearl Harbour gleichzeitig größer, aber auch einfacher als das, was jetzt von uns verlangt wird. Damals war das Ziel klar. [. . .] Unsere von allen geteilte Mission, den Terrorismus auszulöschen, ist nobel. [. . .] Aber unsere individuellen Aufgaben bleiben vage.“ Doch kaum jemand will auf die mahnende Stimme der New York Times hören.
Nach einer Newsweek-Umfrage sind 71 Prozent der Amerikaner für Militärschläge, auch wenn sie zu großen zivilen Opfern führen. Die Boulevardzeitung Daily News (siehe auch Kasten) betitelt ihr Editorial „Total barbarism demands total war“. Darin heißt es: „Wenn der Rest der Welt nicht bei einem Frontalangriff auf den Feind im Schatten mitmachen will, muss Amerika den Alleingang wagen.“
In einem Bericht der angesehenen Washington Post werden mögliche Länder diskutiert, die Ziel einer Bombardierung werden könnten. Neben Afghanistan werden Algerien, Libanon, das Westjordanland, Irak, Iran und Libyen genannt. „Wir stehen im ersten Krieg des 21. Jahrhunderts“, heißt es im Blatt der Watergate-Aufklärer.
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