Alltag in der Ukraine: Die Gräber von Lwiw
Im Westen der Ukraine ist kein Krieg, doch seine Spuren durchziehen den Alltag. In der Kirche, bei der Blumenverkäuferin, auf Friedhöfen.
Das Kontrastprogramm läuft, keine 50 Meter entfernt, in der früheren Jesuitenkirche. Einige der historisch wertvollen Kirchenfenster sind mit Spanplatten verkleidet, um bei einem Angriff Splitter aufzuhalten. Aus dem Inneren erklingt Gesang. Rund 50 Besucher haben sich zur Nachmittagsmesse versammelt, auch ein paar Soldaten in Uniform. Ein Geistlicher der Griechisch-Katholischen Kirche in einem weißen, bestickten Gewand hält die Zeremonie ab.
Der mächtige, rund 400 Jahre alte Barockbau heißt inzwischen offiziell Garnisonkirche St.Peter und Paul und gehört dem Zentrum für Militärseelsorge. Nach der Besetzung durch die Sowjetunion flohen die Jesuiten. Der im Krieg demolierte Sakralbau wurde zum Buchdepot der Akademie der Wissenschaften umfunktioniert. Das hat das Gebäude wahrscheinlich gerettet. Seit 2008 hat die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche hier die Hoheit. Sie ist die größte Glaubensgemeinschaft im Westen der Ukraine. Zwar folgt sie dem Ritus der Ostkirchen, jedoch untersteht sie dem Papst.
Im Seitenschiff der Militärkirche sind zerstörte Waffen aus acht Jahren russischen Kriegs gegen die Ukraine ausgestellt. Auch eine Kassette für verbotene Clustermunition ist darunter. Daneben sind auf einer Tafel die Porträts von gefallenen ukrainischen Soldaten zu sehen. Seit Februar sind neue Porträts dazugekommen.
Der Freund, der im Sommer heiraten wollte
„Wir haben jeden Tag eine oder zwei Trauerfeiern“, sagt Kaplan Roman Mentuch nach der Messe, zurück in seinem Büro. „Heute Morgen habe ich einen 28-Jährigen begraben. So alt wie ich.“ Er erzählt: „Das da draußen sind nicht nur Fotos. Das sind unsere Freunde gewesen.“ Viele kannte er persönlich, manche habe er verheiratet. Eine der ersten Beerdigungen nach Beginn der Invasion im Februar sei ein enger Freund gewesen. „Er wollte im Sommer heiraten.“
Mentuch ist seit 2019 Militärkaplan. Die Aufgabe sei emotional belastend, aber er mache sie immer noch gern. Die Hälfte der Zeit ist er in Lwiw, die andere Hälfte verbringt er mit Besuchen bei den Einheiten aus der Region – auch im Frontgebiet. Wieder in Lwiw zu sein fühle sich für ihn an wie Ferien.
Mentuchs Hauptaufgabe ist der spirituelle Beistand für die Gläubigen, aber auch emotional und psychologisch unterstützt er sie. Seit Februar habe er viel mehr mit Hinterbliebenen zu tun. „Keine Worte können helfen. Das wissen wir“, sagt er. „Aber wir können zuhören, zusammenstehen und beten.“
Darüber hinaus versuche die Einrichtung auch praktisch zu helfen. So habe man beim Spendensammeln und bei der Beschaffung von Helmen, Schutzwesten und Medizin geholfen. Auch ein Auto für Evakuierungen wurde besorgt. Außerdem werde Geld für die Rehabilitation Verwundeter gesammelt.
Für Trauergestecke ruft man nach Anna
Für Floristin Anna bedeuten die vielen Beisetzungen traurige Nachfrage. Die 22-Jährige hat einen Stand am Blumenmarkt, am Rand der Altstadt. Ein gutes Dutzend Verkäuferinnen bieten im Inneren ihre Waren an. Es duftet nach allem, was blühen kann. Fragt man nach Trauergestecken, rufen die Kolleginnen nach Anna. „Meistens melden sich die Einheiten der Gefallenen direkt von der Front“, erzählt sie. Dann könne sie alles vorbereiten. Auf ihrem Smartphone zeigt sie ihre Arbeiten aus der letzten Zeit. Es sind Bilder von mehreren Dutzend Kränzen und Gestecken. Oft sind die Farben Bau und Gelb dabei und fast immer Sonnenblumen.
Roman Mentuch, Militärkaplan
Die gefallenen Soldaten werden in der Regel zur Beisetzung in ihre Heimatorte gebracht. Einen zentralen Ort gibt es also nicht. Allein in Lwiw gibt es etwa ein Dutzend Friedhöfe. Ein besonderer Ort ist der Lytschakiwski-Friedhof. Aufwendig gestaltete Grabmäler sind zu sehen. Lange wurden hier Angehörige der polnischen Oberschicht bestattet. Unter Sowjetherrschaft ist vieles verfallen, seit einigen Jahren wird restauriert. Auf dem Areal sind auch viele Opfer von Aufständen und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts bestattet. Ein Friedhof, der die Geschichte der Stadt widerspiegelt.
Am Südeingang befindet sich eine Gedenkstätte. In einem Oval um eine Kapelle sind Gräber angeordnet. Die Grabsteine haben alle das gleiche Design in Form des Wappenkreuzes der ukrainischen Streitkräfte und goldfarbene Inschriften. In der Mitte ist jeweils ein Porträtfoto angebracht. Ungefähr 70 solche Ehrengräber sind seit 2014 angelegt worden. Die neueren Gräber aus diesem Jahr nehmen ungefähr gleich viel Fläche ein. Sie haben noch keinen Grabstein, sondern Holzkreuze. Doch der Platz reicht nicht mehr aus.
Im nördlichen Teil des Friedhofs liegt eine Wiese, die den Namen Marsfeld trägt – benannt nach dem römischen Gott des Kriegs. Die Rasenfläche ist etwa so breit wie ein Fußballplatz und etwa drei mal so lang. Der Länge nach wird sie von einem Streifen aus rötlich eingefärbtem Beton mit drei Streifen auf dunkelbraunen Granitplatten durchzogen. Darauf sind die Namen von gefallen Sowjetsoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg eingraviert.
Gestorben zwischen Anfang und Mitte Zwanzig
Wegen der rötlich-braunen Farbgebung sei das Monument in Lwiw umstritten, erzählt ein Besucher. Sie erinnere an das zaristische Georgsband, das einst Stalin als Auszeichnung in der Roten Armee wiedereingeführt hatte und das auch ein Symbol der heutigen russischen Aggression ist.
Zwischen der alten Friedhofsmauer und dem Weltkriegsmonument liegen die jüngst Verstorbenen des Kriegs begraben. Die Gräber sind meist mit einem Holzkreuz markiert, auf dem Name sowie Geburts- und Todestag stehen. An vielen ist auch ein Foto angebracht. Die meisten sind zwischen Anfang und Mitte zwanzig getötet worden.
Auch die schon ein paar Monate alten Gräber sind mit frischen Blumen geschmückt. An den meisten ist eine ukrainische Fahne angebracht, an einigen auch die Fahne der Luftlandebrigade, die eigentlich in der Region stationiert ist. Ähnlich oft ist die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg kollaborierte die UPA zeitweise mit dem nationalsozialistischen Deutschland und bekämpfte die Polnische Heimatarmee.
An einem Mittwochabend ist es still auf dem Marsfeld. Nur eine Handvoll Trauernde sind vor Ort. Ein Paar kümmert sich um Blumenschmuck und Kerzen an einem der Gräber am oberen Ende. Ein Mann steht einfach nur da, inmitten der Gräber. Am Fußende eines Grabes, ein paar Reihen weiter unten, kniet eine Frau und weint still. In der letzten Reihe neben den bestehenden Gräbern ist ein neues Grab schon ausgehoben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“