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Alles so verschwommen hier

■ Scharfsehen oder durchdrehen: Über die grundsätzlichen Problemlagen beim Kauf der allerersten Brille im Leben Von Uli Baumgärtner

Wie ich verschwommene Speisekarten an Kneipenwänden hasse! Gnadenlos bestanden meine charmanten Kollegen darauf: „Uli, lies doch mal vor, was wir heute essen!“ Aber Uli konnte nicht. Genauso wenig gelingt es mir, Ortsnamen auf tückisch-blauen Autobahnschildern zu entziffern. Oft komme ich eher zufällig irgendwo an.

Und eines Tages beim Augenarzt. Ich zwinkere, trickse, kneife die Augen zusammen – bloß keine Brille. Doch der Augenarzt durchschaut mich: „Na, Frau Baumgärtner, soll ich schärfer stellen?“ Wären es nicht meine Augen und mein Gesicht, die verglast werden sollen – auch ich fände den medizinischen „Ratespaß“ witzig. „Sie müssen die Brille nur beim Auto fahren, Fernsehen und im Kino tragen.“ Ein schwacher Trost.

„Ich wußte nicht, daß du so eitel bist!“ Meine Freundin Martina krümmt sich vor Lachen. Eckig, rund, oval – mir steht keine Brille. Schon gar nicht solche, die die Kasse bezahlt. Lächerliche 40 Mark sind der meine Augen wert, die eine Hälfte für die Gläser, die andere fürs Gestell. „Kleine Gläser und oval – steht jedem und ist im Trend“, behauptet der Verkäufer. Ich bin aber nicht jede! Martina stehen die Tränen in den Augen. Mir auch. Aber eher aus Verzweiflung.

Der weise Rat einer runzligen Optikerin läßt auf langjährige Berufserfahrung schließen: „Nehmen Sie doch eine eckige Brille, Sie sind doch groß.“ Woanders ist man zumindest ehrlich: „Mit gutem Gewissen kann ich Ihnen keine Brille empfehlen.“ Einer findet ein unförmiges Gestell „wunderbar in Ihrem Gesicht“, und das sage er „nicht, weil es das teuerste ist.“

So geht es wochenlang. Fast traue ich mich nicht mehr, Martina zum „Einkaufsbummel“ einzuladen. Doch eines Samstags tritt Herr Fichting in meinen trüben Blick. Seit 30 Jahren glücklich verheiratet, seit über 20 Jahren Brillenverkäufer. Nach zweistündiger Modenschau kenne ich seine Lebensgeschichte. Herr Fichting ist geduldig. Mit gekonntem Blick hat er ein Markengestell herausgesucht – herzförmig, blond-gesprenkelt, für schlappe 400 Mark Eigenanteil zu haben. „Passend zur Form der Augenbrauen, das ist wichtig“, sagt er. Er weiß, daß ich sie kaufen werde.

Und Martina? Wird sie mich trotzdem schön finden? Kann ich so noch vor die Tür gehen? Wir gehen spazieren. Martina ist genervt. Reuig kehren wir zu Herrn Fichting zurück, eine weitere Freundin im Schlepptau. Die drei besiegeln mein bebrilltes Schicksal.

Meine Kurzsichtigkeit ist jetzt offensichtlich. Zugegeben: Es ist schön zu wissen, daß der Horizont durchaus nicht verschwommen ist. Aber sonst? Ich will einen Kaffee trinken – die Gläser beschlagen. Ich gucke in den Spiegel – jeder Pickel wirkt doppelt so groß. Ich werde die Brille wohl – wie es sich für teuren Schmuck gehört – auf Nimmerwiedersehen in eine Schatulle packen. Und Auto, Kino und Fernsehen keines Blickes mehr würdigen.

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