: Allergrößter Einsatz
Die eigene Sucht habe Thomas Melchior zu einem prominenten Kämpfer gegen Sportwetten werden lassen. Die taz hat ihn dabei in Hamburg begleitet
Aus Hamburg Fridolin Haagen
„Hast du wirklich deinen Zahn verloren?“ Mit dieser Frage wird Thomas Melchior auf dem Weg ins Stadion des Hamburger SV von einem Fan konfrontiert. „Na ja, es war ’ne Krone, aber es ist trotzdem nicht so schön“, antwortet Melchior. Der 46-Jährige hat mit seinem Engagement gegen Sportwetten eine bemerkenswerte Prominenz erlangt. Und die Geschichte mit dem Zahn hat ihn noch etwas bekannter gemacht. In Darmstadt hatte wenige Tage zuvor ein einheimischer Fan zugeschlagen, als er sich dort in der Menge im Trikot von Eintracht Frankfurt präsentiert hatte. Melchiors Video dazu ist viral gegangen. Der Anhänger des HSV ruft ihm noch anerkennend zu: „Top Message!“
Die Aufmerksamkeit für seine Botschaft gewinnt Melchior eben durch auffälliges Verhalten. Sein „Wette verloren“-Schild zeigt er am Rande von Fußballspielen unter den heimischen Anhängern seit dieser Saison stets in einem Trikot eines anderen Profivereins. So kommt er mit den Menschen ins Gespräch und lässt sich dabei filmen. Sein Ziel ist es, diese vor der Gefahr von NEO.bet & Co mit seiner eigenen Wettsucht-Geschichte zu warnen. Auf Social Media werden seine Kurzvideos millionenfach geklickt. „Sportwettensheriff“ heißt sein Kanal. Der Name stammt von einer „Galileo“-Dokumentation. Darüber entstand auch der Kontakt zu der Produktionsfirma Readhead, die sein Projekt von Anfang an begleitet.
In Hamburg ist er dieses Mal ohne Kamerateam und Trikot unterwegs. Auf Wunsch der HSV-Supporter, deren Einladung Melchior gefolgt ist. Bilder wie in Darmstadt sollen vermieden werden. Vor dem Bundesligaspiel der Männer gegen den VfL Wolfsburg soll Melchior seine Geschichte erzählen. Auf dem Weg zur Veranstaltung wird er immer wieder von Hamburger Fans angesprochen, die ihn erkennen. Sie reagieren positiv auf den „Sportwettensheriff“, es werden einige Selfies gemacht und es ergeben sich ganz anders als in Darmstadt entspannte Gespräche mit der Internetberühmtheit. Ein Buch über seine Geschichte hat er unterdessen auch verfasst.
Geschätzte 800.000 Euro hat Melchior in etwa 18 Jahren verspielt. Die Wege in die Sucht seien sehr verschieden, sagt er. Bei ihm sei es sehr schnell gegangen. Schon nach der ersten Wette habe er beschlossen, sein Geld in Sportwetten anzulegen. Er verzockte sein gesamtes Vermögen und bettelte in der Folge sein Umfeld immer wieder um Geld an. Auch wildfremde Personen hat der gelernte Bankkaufmann ausgenutzt. Er kam aus der Abwärtsspirale nicht raus, beging Sozialbetrug und klaute Geld bei der Familie der Freundin. Letztlich saß er drei Jahre im Gefängnis wegen Unterschlagung, Betrug und Diebstahl.
Sein Vater brach mit ihm und weigerte sich noch am Sterbebett, ihn zu sehen. „Ich hätte es mir natürlich anders gewünscht und irgendwie würde ich mir auch wünschen, dass er das jetzt so mitbekommen würde. Ich glaub auch, dass er stolz wäre.“
Dunkle Täler hat Thomas Melchior durchschritten. Über seine Suizidgedanken hat er auch in seinem Buch geschrieben – allerdings ohne jegliche Triggerwarnung. Er sagt: „Das ist einfach ein Thema, das angesprochen werden muss und gerade im Zusammenhang mit Spielsucht ist es ein sehr präsentes Thema, weil die Leute unglaublich verzweifelt sind. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass jemand wirklich die Hoffnung verliert.“
Von seinem ursprünglichen Konzept mit dem „Wette verloren“-Schild und dem Auswärtstrikot ist Melchior mittlerweile abgekommen. „Du darfst nicht immer das Gleiche machen, sonst sind die Leute auch irgendwann gelangweilt“, erklärt er und verweist auch auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne in den sozialen Medien.
Seine Social-Media-Aktivitäten stoßen aber auch auf Kritik. In Kommentarspalten wird ihm der Vorwurf gemacht, Aufmerksamkeit um jeden Preis erzeugen zu wollen und „aufmerksamkeitsgeil“ zu sein. Gerade unter seinen aktuelleren Videos, bei denen er Promis wie die Sängerin Dua Lipa bittet, ein Trikot zu unterzeichnen. Auch für einen Podcast mit dem Youtuber KuchenTV alias Tim Heldt, der wegen rechtsextremer Delikte vorbestraft ist, stellte sich Melchior bedenkenlos zur Verfügung.
Für seinen Kampf gegen Sportwetten erhält Thomas Melchior viel Unterstützung. Vom Bruder und seiner Mutter sowieso, aber auch von außen. „Ich bekomme jeden Tag ganz viele Zuschriften von Leuten, die sich bedanken für das, was ich mache.“ Wenn es dann mal wie in Darmstadt „ein bisschen wilder“ zugehe, sei es das dann auch wert.
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