Alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin: Annas Träume
Sie will bald Arbeit finden, denn sie hat Angst davor, verwaltet zu werden. Aber was die alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin Anna vor allem vermisst, ist Würde.
Anna* schiebt mit großen Schritten den alten, mit bunten Decken ausstaffierten Kinderwagen vor sich her. Ihre Turnschuhe sind ausgetreten, das T-Shirt mit Rolling-Stones-Zunge schlabbert. Eine lässig schöne Frau. Annas Rücken ist ganz gerade. Sie parkt den Kinderwagen am Rand des Spielplatzes, holt ihre Tochter aus den Gurten. "Back mir mal einen Sandkuchen, Mathilda", sagt sie. "Wir haben was zu feiern."
Nach vielen Telefonaten hat sie nun endlich die Zusage schriftlich. Mathilda wird in drei Wochen in die Kita gehen. Nicht sieben bis neun Stunden wie die Kinder von Eltern, die arbeiten. Aber immerhin fünf. "Ein neuer Lebensabschnitt", sagt Anna. Sie will endlich wieder arbeiten.
Kaum Geld für Essen und Schuhe
Es ist ein schöner Spätsommertag im September 2010. Anna denkt zurück. Zwei Jahre lang hat Anna ihre Tochter Mathilda allein erzogen. Jede Nacht hat sie ihren Schlaf bewacht. Immer, wenn Mathilda etwas fehlte, hat sie allein entschieden, ob sie krank genug ist für den Arzt. Sie hat jeden Tag versucht, trotz Hartz IV anständig einzukaufen: wenigstens gutes Essen, wenigstens gute Schuhe.
Ein paarmal dachte Anna wirklich, dass sie nicht mehr kann. Einmal wollten sie ihr das Gas abdrehen. Sie musste zum Sozialgericht. Ein andermal kam ein Brief vom Jugendamt. Mathildas Vater muss weniger Unterhalt zahlen. Er hat ein niedriges Gehalt, stottert aber eine Wohnung in Hamburg ab. Sie wollen ihn nicht zum Verkauf zwingen. "Geht bei Ihnen Eigentum vor Kindeswohl?", schrieb Anna trotzig zurück.
Nach dem Mikrozensus von 2009, der sich explizit mit der Lebenssituation sogenannter Einelternfamilien beschäftigt, gibt es mehr als 1,6 Millionen Alleinerziehende in diesem Land. Neun von zehn Alleinerziehenden sind Frauen. Mehr als 600.000 beziehen Hartz IV, mehr als 200.000 sind arbeitslos gemeldet. Das heißt, mit über 11 Prozent ist die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich. Mehr als die Hälfte aller Alleinerziehenden verdient weniger als 1.500 Euro im Monat. In Deutschland ist insgesamt jedes sechste Kind und jedes dritte Kind von Alleinerziehenden von Armut bedroht. Die vergleichsweise schlechte Einkommenssituation erklärt sich nicht aus den fehlenden Ausbildungsabschlüssen. 24,6 Prozent der Alleinerziehenden haben Fachhochschulreife oder Abitur.
Nach der letzten "Vermittlungsoffensive" von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im April 2010 sollen Alleinerziehende in den Jobcentern Vollversorgungspakete inklusive Arbeitsstelle, geeigneten Arbeitsbedingungen und passender Betreuung für das Kind angeboten werden. Unabhängig davon können die Fallmanager bei der Agentur für Arbeit alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängern ab dem vollendeten dritten Lebensjahr ihres Kindes mit der Kürzung der Beiträge drohen, wenn sie keine Bewerbungen liefern. Sie können sie zu Schulungs-, Wartemaßnahmen und 1-Euro-Jobs zwingen. Dazu berechtigt sie spätestens eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2. August, die auch Alleinerziehende dazu verpflichtet, ganztags zu arbeiten.
Anna ist eine stolze Frau. Sie will Arbeit finden, und zwar bald. Denn sie hat Angst davor, verwaltet zu werden. In einem Jahr wird Mathilda drei. Das Amt wird wieder das Recht haben, Anna zu Maßnahmen zu schicken, und sei es nur für die Statistik. Es könnte auch sein, dass Anna eine Art Vollversorgungspaket angeboten bekommt. Das zumindest hat sich Ursula von der Leyen vor einem halben Jahr ausgedacht. "Die Stählerne", sagt Anna. Immer, wenn sich die Ministerin zu den Arbeitslosen äußert, heißt es, die Alleinerziehenden seien ihre Lieblinge. Sie seien die Hätschelkinder des Wohlfahrtsstaates.
Anna weiß, was sie kann
Aber Anna will sich nicht verhätscheln lassen. Sie hat studiert, ein bisschen Bafög bekommen, viel selbst finanziert. Sie weiß, was sie kann. Ihre Stimme wird jetzt lauter. "Was soll ich arbeiten? Wie kann ich etwas finden, das wenigstens ein bisschen zu mir und meinem Leben mit Mathilda passt?"
Anna soll noch mal ganz weit vorn anfangen, mit 35 Jahren. Plötzlich läuft Anna mit großen Schritten los. "Mathilda, Mathilda, Mathilda", ruft sie in einem Atemzug, denn das Kind ist überall gleichzeitig, sie ist mal wieder Richtung Straße gerannt.
Mathilda ist ein lebendiges Mädchen. Sie hat Annas funkelnde Augen. Und ihren Eigensinn. Wie Mathilda hatte auch Anna, als sie klein war, nur ihre Mutter. Aber das war für Anna kein Problem. Schon als sie ganz klein war, reisten sie zusammen von Jugendherberge zu Jugendherberge. Später kam Anna in den Kinderladen, einen der ersten in Berlin. "Wir waren eine große Familie", begeistert sich Anna. Sie fühlte sich aufgehoben.
Familien um sie herum wollen für sich bleiben
Heute sagt sie: "Die Zeiten haben sich geändert." Anna hat Sozialwissenschaften studiert. Für ihre Diplomarbeit hat sie Mütter und Väter befragt, wie sie klarkommen mit den Anforderungen der Arbeitswelt, rund um die Uhr überall gleichzeitig sein zu müssen, aber nie zu Hause. Inzwischen interessiert sich Anna mehr für die Abstiegsängste der Mittelschicht. Sie erzählt, dass sie am Wochenende oft allein ist mit Mathilda. Die Familien um sie herum wollen für sich bleiben.
Drei Monate später, ein grauer Nachmittag Anfang November, ein Besuch bei Anna. Der Türöffner ist kaputt. Anna schmeißt den Schlüssel runter. Weil Anna schon seit zehn Jahren hier wohnt, kostet die Wohnung so wenig wie keine mehr im Berliner Stadtteil Mitte. Nach der Wende kamen die Leute her, weil es so viele Brachflächen gab und Brandmauern. Auch Anna fand es hier romantisch.
Romantisch ist es jetzt nur noch in Annas Wohnung. Wenn man aus dem Schlafzimmerfenster schaut, prallt der Blick auf ein Bürohaus, so grau wie Fensterkitt. Aus dem Wohnzimmerfenster sieht man ein neues Hostel, in dem die Touristen absteigen, die mit den Billigfliegern kommen. Bald muss Anna Kohlen kaufen, weil sie noch mit Kachelöfen heizt. Anna liebt ihre Wohnung. Es ist hell, die Räume sind hoch, haben große Fenster und Flügeltüren. In einem Zimmer ist eine halbe Wand tapeziert, im anderen steht ein selbst gebautes Regal. Annas Haus ist das letzte unsanierte der Straße. Wer weiß, wie lange noch.
Weniger als fünf Stunden, um den Alltag zu organisieren
"Mathilda hat sich an die Kita gewöhnt", berichtet Anna. Sie weiß jetzt, dass fünf Stunden Kita am Tag nicht reichen - weder für sie noch für Mathilda. Immer, wenn sie Mathilda abholen soll, will das Mädchen gern noch bleiben. Die anderen Kinder gehen ja auch noch nicht. Wenn Anna Mathilda morgens weggebracht hat, würde sich Anna am liebsten noch mal hinlegen, denn noch immer wird Mathilda jede Nacht ein paarmal wach. Aber es ist schwer, in weniger als fünf Stunden den Alltag zu organisieren. Mit den Ämtern zu streiten. Und dann auch noch in Lohn und Brot zu kommen.
Anna setzt einen Topf Milch für den Kaffee auf. "Irgendwas mit Stadtentwicklung wäre toll", sagt sie, und denkt an eine Auftragsarbeit an der Uni. Sie musste Passanten befragen, und es gab sogar Geld. Das war vor knapp zehn Jahren. Damals verkaufte Anna noch hauptsächlich Drinks in Bars, die heute in jedem Reiseführer stehen. Dann ging sie nach Südafrika. Als sie zurückkam, verliebte sie sich und wurde schwanger. "Ein Kind zum passenden Lebensabschnitt zu planen, das ist eben nicht mein Ding", sagt sie. Und jetzt? Kellnern geht mit Mathilda nicht mehr. Die Uni ist so lange her. Anna weiß nicht, wo sie anfangen soll. Sie bräuchte mehr Zeit.
An einem warmen Tag im Mai 2011 steht Anna im Supermarkt. Sieben Monate ist Mathilda nun in der Kita. Anna ist noch dünner als im Herbst. Ihr Kopf ist vom Rechnen schwer. Gurken und Tomaten will sie Monate nach Ehec immer noch keine kaufen. Also Mango, Ananas und Beeren, damit Mathilda zu ihren Vitaminen kommt. Kostenpunkt: fast 10 Euro. Damit ist ein Zehntel des Wochenbudgets erschöpft. Abzüglich Strom, Telefon und Kita-Gebühr bleiben Anna und Mathilda 400 Euro im Monat für Essen, das Zeug aus der Drogerie, Kleider und Schuhe. Anna bezahlt.
Als sie auf die Straße tritt, fällt ihr zum ersten Mal heute auf, dass der Sommer noch lang ist. Sie beschließt, mal frei zu machen. Sie wird nicht wie eigentlich geplant die Stellenanzeigen durchgehen. Sie wird im Lieblingscafé gegenüber einen Kaffee trinken gehen.
Drei Löffel Zucker rührt sich Anna in den Kaffee. Giovanni, der Besitzer des Cafés, fragt sie oft nach der Berliner Ausgehgesellschaft in den Neunzigern. Giovanni ist seit fünf Jahren in Berlin. Er schaut sich gern Rockkonzerte an. Den ganzen Winter hat er nichts gesagt, als Anna jeden Tag mit ihrer Tochter kam, ab und zu einen Kaffee bestellte, Mathilda die Tische verrücken ließ und den Nachmittag blieb.
Eine Frage war verboten
"Es gab wenige Regeln", sagt Anna. Giovanni nickt. Anna erzählt: Von den Technokellern mit Lagerfeuer im Vorraum und den illegalen Clubs in Plattenbauten und Gartenhäusern, in denen viel Tischtennis gespielt wurde. Die Läden hießen "Sexyland" und "Im Eimer". Die Leute hatten "Champagnervergiftungen" und konnten sich im Taxi nicht an ihre Hausnummer erinnern. Man durfte über alles reden, von den Essgewohnheiten in Chile, der Freizeitgesellschaft, vom Flugverhalten der Störche im Herbst und vom Ende der Arbeit. Nur eine Frage, die "Und was machst du so"-Frage, die war verboten, sagt Anna.
Heute hat sich das, was man macht, nach vorn gedrängt, sagt sie. Die besten Freundinnen von Anna sind beschäftigt. Eine ist immer in Eile, weil sie noch Winterräder für den Markenkinderwagen besorgen muss oder Probleme mit "der Kinderfrau" hat. Eine andere Bekannte hat sich gerade getrennt. Sie hatte Jahre auf das Gehalt ihres Mannes vertraut, die Kinder geschaukelt und nebenbei "was Kreatives" gemacht. Sie empfindet es als Zumutung, nun wieder richtig Geld verdienen zu müssen. "Eine Latte-macchiato-Mutter", sagt Anna. Sie fragt sich: "Was ist aus uns geworden?"
Als Anna geht, sagt Giovanni: "Anna nimmt sich manchmal viel vor. Sie hat große Träume." Annas Träume sind wirklich groß. Sie handeln von Sozialisierung durch Würde statt Vergesellschaftung durch Zwang. Wenn Anna ein Grundeinkommen hätte. Sie könnte Bücher lesen. Mal wieder ein Konzept schreiben. Das Konzept bei einer Stiftung einreichen. Vor allem aber das: Sie würde arbeiten, egal für welchen Lohn.
Kürzlich hatte Anna ein Vorstellungsgespräch. Der Mann wollte wissen, warum sie so lange studiert hat. Anna wusste darauf keine diplomatische Antwort. Anna sagt, sie weiß selten diplomatische Antworten. Also hat sie gesagt: "Ich habe studiert, weil es mich interessiert hat. Es war eine schöne Zeit." Anna hat die Stelle nicht bekommen.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?