piwik no script img

Archiv-Artikel

Alle sehr von dieser Welt

HELDEN Diese Fußball-WM ist auch ein Abgesang auf die Heldenkultur. Die letzten acht Teams in Südafrika funktionieren nur über das Kollektiv: Der taz-Team-Check vor dem Viertelfinale

Sähe man heute das WM-Endspiel von 1966, es wäre es ein perfektes Sedativum

VON JAN FEDDERSEN

So hätte es die Bild-Zeitung gerne: einen handfesten Helden zu kreieren. Ihn zu erkennen, weil das Publikum sich in diesen Mann verliebt hat, in seine Fähigkeiten und in sein Talent überhaupt. So einen wie Thomas Müller, 20 Jahre, Stürmer beim FC Bayern München und seit der meisterlichen Saison unter Louis van Gaal ein Liebling dieser Zeitung. Seit dem Auftakt des Turniers von Südafrika hängen die Reporter dieses Mediums an Müller – nachgerade jedes Detail bekommt die Leserschaft ausgebreitet. Ein Mann, der „müllert“, der den Engländern was „reingemüllert“ hat, wie einst Gerd Müller in den frühen Siebzigern das vermochte. Irgendwie athletisch und fußballerisch von eher minderer Güte, stand dieser Bayer sehr oft genau dort, wo er den Ball von seinen Mannschaftskollegen fast spanngenau serviert bekommen konnte – um das Leder im Tor zu versenken.

Aber ist Thomas Müller wirklich ein Held, wie uns alle deutsche Welt weismachen will? Ist er schon mehr als ein eben noch pubertierender Bayern-München-Amateur, der bei der Weltmeisterschaft das Allerbeste auszupacken weiß, was er in petto hat – die Lust am Spielen und der Eifer, es den Alten und Arrivierten zu zeigen, Anwartschaft auf deren Rang und Renommee? Müller, das ist natürlich auch ein Missverständnis, das die Bild-Zeitung bewusst inszeniert, denn ein Held, ein Idol, ein Bravo-Boy in spe, das kann der gebürtige Bayer nicht sein, denn Helden, Idole, Ikonen gibt es nicht mehr.

Selbst Lionel Messi, ein ideeller Spross des großen Diego Maradona, ist nur ein Wasserträger auf die Mühlen, die Argentiniens Gegner bislang hilflos aussehen ließen. Heroen sind, wenn überhaupt, all jene Kicker, die ihren Dienst vor den Karren der Mannschaften tun, Arjen Robben beispielsweise, der Niederländer, der verhältnismäßig allürenfrei genießt, bei Bayern München wie in seinem Nationalteam nur die Rolle des Torschützen innezuhaben. Bilder, wie sie von früheren Weltmeisterschaftsturnieren überliefert sind, hat man bisher nicht gesehen. Etwa Uwe Seelers hängender Schopf nach dem Abpfiff von Wembley 1966, Maradonas Jubel nach seinem Schummeltor 1986 gegen England im Viertelfinale der WM von Mexiko.

Helden müssen auch Tragödien weggesteckt haben, sie müssen die Spuren des Kampfes irgendwie körperlich zeigen. Einer wie Thomas Müller ist dagegen eine Erfindung der Bild-Zeitung – ein Fußballwelpe, der irgendwie auf dem Platz weniger spielerisch wirkt als herumtollend. Dass seine beiden Treffer gegen England eine leichte Übung waren, mit der er nur eine formidable Kombination des Kollektivs nüchtern vollendete, spricht noch mehr gegen die Behauptung, dieser Mann könnte der heimliche König der deutschen Mannschaft sein. In Wahrheit ist er ein Spieler, der, wie Miroslav Klose treffend bemerkte, auch einmal missliche Tage erleben wird. Dann wird er auf dem Feld eher eine Last für die anderen.

All diese Heldenthesen gehen auch deshalb ins Leere, weil der moderne Fußball inzwischen um ein Vielfaches athletisch und technisch anspruchsvoller geworden, ist als das vor 20 oder 30 oder 40 Jahren hätte der Fall sein können. Sähe man heute das WM-Endspiel von 1966 in der Livekonserve, ohne die Möglichkeit des Vorspulens, wäre es ein perfektes Sedativum. Selbst die Partien der Neunzigerjahre, etwa das WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien 1990, nehmen sich gegen die allermeisten Spiele dieser südafrikanischen WM wie ein Fläschchen Cola gegen ein chemisch fein komponiertes Aufputschmittel aus.

Vor allem die Mannschaften mit hohem Durchschnittsalter mussten früh aus dem Turnier ausscheiden, die lahmen Franzosen und Italiener am prominentesten. Dominiert wird das Turnier inzwischen von Teams, die keine Helden kennen – aber auf zufällig-absichtsvolle Genialitäten bauen müssen.

Doch hauptsächlich lebt aller Fußball der modernen Art von der Körperintelligenz seiner Spieler und vom technischen Vermögen. Die Männer, die in Südafrika zu bestaunen sind, leben von emotionaler wie physischer Kompetenz. Gefragt sind keine Körperpanzer mehr, eher tanzende denn rumpelnde Figuren. Kein Zufall, dass es inzwischen eine harsche Debatte um den Videobeweis bei umstrittenen Szenen geht – die meisten Schiedsrichter sind nicht mehr in der Lage, läuferisch mit den quirligen Spielzügen mitzuhalten. Ein Endvierziger konnte noch in den Siebzigern locker ein Spiel zwischen dem HSV und Bayern München leiten, das Tempo war insgesamt, man schaue es auf Youtube nach, eher gemächlich.

Helden, so gesehen, sind immer die Mannschaften selbst – auf dass sie miteinander funktionieren wie ein Uhrwerk, dessen Spiel die Gegner schon deshalb nur schwer lesen können, weil es dauerhaft in verschiedene Richtungen und mit verwirrend vielen Kombinationen am Laufen ist: Moderner Fußball wird mehr und mehr zum Rasenblitzschach. Für Teenageridole wie Thomas Müller ist in diesem Tableau viel Platz – für Helden solistischer Prägung nicht mehr.