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„Alle haftunfähigen RAF-Gefangenen müssen entlassen werden“

■ Die Glaubwürdigkeit der Kinkel-Initiative muß durch konkrete Schritte unterstrichen werden/ Neueingeleitete Verfahren bereiten Probleme

Fragt man den scheidenden Justizminister Klaus Kinkel in diesen Tagen, ob seine Initiative zur vorzeitigen Haftentlassung einiger RAF-Gefangener stabil ist, dann antwortet er meist mit dem Wort „fragil“. Der Liberale, Hoffungsträger seiner Partei und designierter Außenminister, untertreibt. Mit der gestrigen Entscheidung des Stuttgarter Oberlandesgerichts, die Reststrafe des zu lebenslanger Haft verurteilten Günter Sonnenberg auszusetzen, hat die nach dem Justizminister benannte Initiative ihre erste wichtige Hürde genommen. Kinkels Wunsch, nach mehr als 20 Jahren bewaffneten Kampfes aus dem „unglückseligen Kreislauf der Gewalt“ herauszukommen, ist damit in greifbarere Nähe gerückt.

Nagelprobe für Kinkels Durchsetzungsfähigkeit

Neben der Haftentlassung Bernd Rößners und Irmgard Möllers gilt die vorzeitige Entlassung Sonnenbergs für die RAF-Gefangenen, ihre Angehörigen und Anwälte als Nagelprobe dafür, ob Kinkels Pläne aus ihrer Sicht einerseits ernst zu nehmen sind und ob sich der Liberale politisch durchsetzen kann.

Auf seiten der Gefangenen wird eine Zäsur konstatiert, die mit der Erklärung der RAF-Kommandoebene vom 10.April und mit der im Namen der „Gefangenen aus RAF und Widerstand“ abgegebenen Erklärung Irmgard Möllers am 15.April gesetzt wurde. Beide Schreiben beinhalten das Eingeständnis, daß der seit über zwei Jahrzehnten propagierte bewaffnete Kampf politisch gescheitert ist. Die Kommandoebene kündigte weiter an, ihre Anschläge und Attentate, denen zuletzt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und der Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder zum Opfer fielen, — wenigstens vorläufig — einstellen zu wollen.

Erwartet wird nun eine „Zäsur“ auch auf der staatlichen Seite. Erster konkreter Schritt, der die Glaubwürdigkeit der Kinkel-Initiative unterstreichen soll, müßte die Haftentlassung aller haftunfähigen Gefangenen sein. Als Schritte, die unmittelbar folgen sollten, werden genannt:

—den Häftlingen untereinander die Möglichkeit zur freien Kommunikation einzuräumen,

—das von der Bundesanwaltschaft gegen die Inhaftierten eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen eines „illegalen Infosystems“ einzustellen,

—die neuen Verfahren gegen längjährig oder zu lebenslanger Haft verurteilte frühere RAF-Mitglieder, die aufgrund der Aussagen der in der DDR untergetauchten RAF-Aussteiger aufgenommen wurden, einzustellen

—und die Gefangenen, deren vorzeitige Haftentlassung noch nicht geprüft werden kann, weil sie die gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststrafen noch nicht verbüßt haben, zusammenzulegen.

Die weitreichendste Vorstellung, „daß Perspektive heißt, Entlassung aller in zwei Jahren“, ist vom Bundesjustizminister allerdings umgehend zurückgewiesen worden. „Ganz klar sagen“, will Klaus Kinkel, „dies wird so nicht möglich sein“. Im jetzt eingeleiteten Prozeß sei besonders wichtig, „sich gegenseitig nicht zu überfordern“.

Weitergehende Schritte sind nach den Erklärungen, den bewaffneten Kampf einzustellen, auch für die Sicherheitsbehörden kein Tabu mehr. Die freie Kommunikation, eine Zusammenlegung derer, die noch nicht freigelassen werden können oder die Einstellung der neu eingeleiteten Verfahren werden auch von führenden Vertretern der Sicherheitsbehörden befürwortet. Ihr Argument lautet, daß nun nicht mehr befürchtet werden muß, es könnten aus den Haftanstalten heraus Anschläge geplant oder gar gesteuert werden. Anliegen der Sicherheitsexperten ist auch, daß das „Mißgeschick“ im Fall von Bernd Rößner „repariert“ werden müsse.

Das „Mißgeschick“ geht auf das Konto der Bundesanwaltschaft. Diese hatte im Rahmen der Prüfung, ob Rößner nach über 17 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden kann, einen Sachverständigen bestellt, der bereits vor zwei Jahren in seinem Gutachten gegen eine Haftentlassung des physisch wie psychisch schwer angeschlagenen Gefangenen gestimmt hatte. Rößner hat sich inzwischen einem Gnadengesuch angeschlossen, das seine Mutter für ihn beim Bundespräsidenten Weizsäcker eingelegt hat.

Die Entlassung des haftunfähigen Rößner wird bei den Befürwortern der Kinkel-Initiative neben der Freilassung Sonnenbergs und der am längsten Inhaftierten Irmgard Möller als einer der „Kristallisationsfälle“ betrachtet, deren Behandlung über den erfolgreichen Fortgang der Kinkel-Pläne entscheidet. Die RAF-Gefangenen haben zudem erklärt, die notwendige Einwilligung für das Prüfungsverfahren zur vorzeitigen Haftentlassung erst dann abzugeben, wenn die Entlassung Rößners und Sonnenbergs gesichert ist. Die Mitarbeiter im Justizministerium zeigen sich überzeugt, über den Gnadenweg auch den „Problemfall“ Rößner lösen zu können.

Justizminister Kinkel hat in den letzten Wochen an die Adresse der Inhaftierten wiederholt betont, daß seine Initiative ohne deren „Mitwirkung“ scheitern könne. Unter Mitwirkung meint der Bonner Politiker, daß die RAF-Gefangenen sich dem rechtlichen Rahmen unterwerfen müssen, der einer vorzeitigen Haftentlassung vorgeschaltet ist. Gefordert wird von den Gefangenen eine Erklärung, künftig auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele verzichten zu wollen, sich mit der eigenen Tat auseinandergesetzt zu haben und nach der Entlassung ein straffreies Leben führen zu wollen. Für Kinkel ist dies — insbesondere nach den weitreichenden Erklärungen der RAF-Kommandoebene und der Gefangenen von Mitte April, in denen der terroristischen Praxis eine Absage erteilt wird — nicht als Forderung nach einem Kotau der Gefangenen zu verstehen. Ein formales Abschwören ist für ihn nicht nötig. Kinkel, dem man guten Gewissens glauben kann, daß er die Akten zu Rößner und Sonnenberg „in- und auswendig kennt“, verweist auf die „weitgehenden Bemühungen“ seiner Behörde, so daß von einer „Unterwerfungserklärung“ der Gefangenen nicht gesprochen werden könne. So sei im Fall von Günter Sonnenberg auch alles getan worden, „um zu einem guten Ergebnis zu kommen“.

Im Gegenzug pocht Kinkel allerdings auf die Einhaltung der Mindeststandards der gesetzlichen Bestimmungen. Er tut dies augenscheinlich nicht zuletzt, um einerseits den Kritikern seiner Initiative ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren vorführen zu können. Andererseits fürchtet der Justizminister, daß die Oberlandesgerichte, die über die Haftentlassung zu entscheiden haben, sich gegen eine vorzeitige Entlassung der Gefangenen stellen könnten.

Die Gefangenen, deren Anwälte und Angehörige werten die von der Bundesanwaltschaft geforderte Erklärung dagegen nach wie vor als eine Unterwerfungserklärung. Einer der Rechtsanwälte, der das Wortprotokoll der Sonnenberg-Anhörung gelesen hat, nannte das Verfahren „entwürdigend“. Seine düstere Prognose: „Diesen Weg werden viele Gefangene nicht gehen.“ Kinkel hält dagegen, „daß aller good will am Ende ist, wo das Gefühl aufkommt, daß keinerlei Verständnis dafür da ist, wie die Situation aussieht“.

Verfassungsschützer und einzelne Bundesanwälte überlegen derzeit auch, wie sie das Problem der neu eingeleiteten Verfahren vom Tisch schaffen können. Die historisch einmalige Chance, das Dauerthema RAF nach mehr als 20 Jahren beilegen zu können, wollen sie an den neuen Prozessen nicht scheitern lassen. Im Raum steht die Befürchtung, daß neue Urteile eine Aufteilung der Gefangenen in zwei Klassen zur Folge hätte.

In eine größere, die in absehbarer Zeit auf freien Fuß kommt, und in eine kleinere, die aufgrund der Aussagen der RAF-Aussteiger über weitere Jahrzehnte inhaftiert bleibt. Rechtsexperten beurteilen die Möglichkeit einer Einstellung dieser Ermittlungsverfahren allerdings skeptisch, insbesondere wenn es sich dabei um Tötungsdelikte handelt.

Die Befürworter einer Einstellung setzen dagegen, daß es nicht einsichtig sei, warum zur Höchststrafe Verurteilte noch einmal verurteilt werden sollen. Sie verweisen auch darauf, daß beipielsweise im Fall von Günter Sonnenberg unter wesentlich schlechteren politischen Rahmenbedingungen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Beteiligung an der Ermordung des früheren Bundesanwaltes Buback eingestellt wurde. Wolfgang Gast

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