: „Alle Theorien sind Arbeitshypothesen“
betr.: „Lebensmittel auf Rezept“ von Nicole Jäger-Koydl (Wettlauf um gesündesten Speisezettel), taz vom 8. 12. 99
[...] Am Ende des Artikels zeigt sich nur, dass hier allerlei Halbverstandenes, Unverstandenes und Missverstandenes zusammen mit Binsenweisheiten in einem Kessel journalistischer Willkür vermengt wurde, um am Ende zu einem eher schwer verdaulichen Pamphlet zu verkleben. Doch en détail:
Was beispielsweise finden Sie „erstaunlich“ an der Tatsache, dass die Menschen unter den gegenwärtig verbreiteten Ernährungsgewohnheiten „...dicker werden“? Auch können wir „die Widersprüche des Lebens“, wonach mit der Lebenserwartung auch die Krebsrate steigt, nicht als solche erkennen. Lernt doch heute bereits jeder Schüler der Gymnasialen Oberstufe, dass mit der Anzahl der Zellteilungen auch die Wahrscheinlichkeit wächst, Mutationen zu entwickeln, die schließlich zur Tumorbildung führen können.
Und was schließlich die Aussage betrifft, dass „die heutigen Ernährungsempfehlungen sich gewöhnlich auf eine Studie von Doll und Peto“ stützen, wenden Sie sich getrost an die „Experten“ vom Europäischen Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e.V. (welch wohlklingender Name!). Sie werden Sie hoffentlich eines besseren belehren. Immerhin musste Frau Gonder auch mal das kleine Einmaleins der Ernährungswissenschaft lernen.
Zugegebenermaßen, auch die Ernährungswissenschaft ist nicht frei von Irrungen und Wirrungen, wie alle anderen Wissenschaften auch. Wüssten wir gegenwärtig über alle Eventualitäten vollständig Bescheid, wäre dies das Ende aller Wissenschaft. Wie bereits der Vertreter des kritischen Rationalismus, Karl Raimund Popper, meinte: „Alle Theorien sind Arbeitshypothesen.“
Zur bezweifelten Wirkung von Obst und Gemüse bleibt nur hinzuzufügen, dass eine überwältigende Mehrheit der Studien zu diesem Thema nur einen Schluss zulässt: Wer häufiger Obst und Gemüse verzehrt, nimmt auch vermehrt gesundheitlich positiv zu bewertende Substanzen wie sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, Vitamine und Ballaststoffe auf. Die Auswirkungen einer solchen Ernährungsweise konnten in einer Metaanalyse zur Beziehung zwischen Krebshäufigkeit und dem Verzehr von frischem, unerhitztem Gemüse wie folgt bewertet werden: Von insgesamt 15 Studien zeigten 13 eine negative und eine Untersuchung keine Korrelation. Lediglich in einer Studie konnte eine positive Korrelation verzeichnet werden. Ähnliche Zusammenhänge konnten für andere Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und anderes gezeigt werden. Die Fachwelt ist sich in dieser Hinsicht (überraschend) einig. Vielleicht sollten die Damen und Herren des oben erwähnten Vereins öfter mal in den entsprechenden Fachzeitschriften blättern, anstatt Vereinsblättchen herauszugeben. [...] Mathias Schwarz, Alexander Ströhle, Gießen
Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen