■ Algerien: Sechs Präsidentschaftskandidaten treten zurück: Das Ende der Hoffnungen?
„Gibt es ein Licht am Ende des Tunnels?“ sollte eigentlich die Fragestellung des heutigen Algerienkommentars lauten. Von den ersten wirklich pluralistischen Präsidentschaftswahlen mit sieben Kandidaten sollte die Rede sein. Von einem Urnengang, an dem erstmals alle politischen Richtungen des krisengeschüttelten Landes frei um das höchste Staatsamt streiten, ein von der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) unterstützter Kandidat mit inbegriffen. Und was ganz besonders neu war: Erstmals bewarben sich nur Zivilisten um die Präsidentschaft. Genug Themen, um von Hoffnung zu sprechen.
Doch dann, nur wenige Stunden vor dem Urnengang, der große Dämpfer: Die sechs Oppositionskandidaten traten geschlossen zurück. Als einzige Option blieb somit Abdelaziz Bouteflika, einst Außenminister unter Algeriens historischem Präsidenten Houari Boumediene und Günstling von Staatsapparat und Armee. Die Opposition hatte bereits bei den ersten vorgezogenen Wahlgängen in den Kasernen und im dünnbesiedelten Süden „massive Betrugsmanöver“ ausgemacht. Außerdem enthüllten sie einen Plan, mit dem Bouteflika gestern flächendeckend Stimmen zugeschustert werden sollten.
Obwohl Präsident Liamine Zéroual die Wahlen gestern weiterlaufen ließ, als sei nichts geschehen, ist für Algerien nach dem Rücktritt der Opposition nichts mehr, wie es war. Erstmals hat sich die gesamte Zivilgesellschaft geschlossen gegen den übermächtigen Armee- und Staatsapparat gestellt. Selbst der Kandidat der Minderheit in der Regierungspartei National- Demokratische Versammlung (RND), die einst eigens zur Unterstützung von Präsident Zéroual gegründet wurde, Mokdad Sifi, wird heute mitmarschieren, wenn die Opposition nach dem Freitagsgebet geschlossen auf die Straße geht.
Die Mobilisierungsfähigkeit der sechs wird das eigentliche Indiz für das Kräfteverhältnis im Lande sein und nicht die Beteiligung bei der Wahlfarce von gestern, wie es Bouteflika und Zéroual glauben machen möchten. Nur wenn es gelingt, massenhaft die Menschen auf die Straße zu bringen, kann den Resten der Machtstrukturen des einstigen Einparteiensystems endgültig der Garaus gemacht werden. Algerien hätte dann eine wirklich demokratische Zukunft vor sich – das Licht am Ende eines dunklen Weges.
Bestehen die sechs diese Kraftprobe nicht, ist ein Rückschritt zu befürchten, der einmal mehr all die Mechanismen reproduziert, die Algerien in die nationale Katastrophe geführt haben. Algerien würde dann nicht in einem Tunnel stecken, sondern in einem tiefen, schwarzen Loch. Reiner Wandler
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