: Albtraum
■ Zur Absetzung einer Uraufführung in der Semperoper
Antje Kaiser
Jörg Herchet (geboren 1943), Paul-Dessau-Schüler und ansässig in Dresden, komponierte 1987 die Oper Nachtwache nach dem Text des gleichnamigen Stückes von Nelly Sachs, einem Albtraum in neun Bildern. Das Werk entstand im Auftrag der Semperoper Dresden, und seine Uraufführung war für den Dezember 1990 geplant. Jörg Herchet ist, auch wenn er in der DDR von der offiziellen kulturpolitischen Linie weitgehend ignoriert wurde, längst außerhalb der Grenzen des Landes bekannt: als kompromißloser Künstler ganz eigener Handschrift. Die Nachtwache ist seine erste Oper. Ihre Musik und der Text der jüdischen Künstlerin Nelly Sachs, in langen Jahren des Exils in Schweden nach dem Krieg entstanden, verschmelzen in dem neuen Werk zu einer großen Vision.
Hineinzielend in die individuell-moralischen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, geht es in der Oper um Menschen, die „angeschossen, nicht zu Ende geschossen“ sind, um Menschen in einem seltsamen Grenzzustand zwischen Leben und Tod, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Schuld und individueller Erkenntnis des Einzelnen und der Suche nach einer neuen sinnvollen Gemeinschaft. Der Chor nimmt in der Oper die zentrale Stellung ein, musikalisch wie inhaltlich. Als Chor namenloser Gefangener, nicht zuletzt in sich selbst gefangener Menschen, artikuliert er Befindlichkeiten einer zerrissenen, nach ihren Sinnwerten fragenden Gesellschaft. Zugleich stellt das Werk im guten Sinne hohe künstlerische Ansprüche: dem ungewöhnlich metaphernreichen, sehr poetischen Text der Nelly Sachs, Bildern von fast biblischer Sprachgewalt, verbindet sich eine reiche, sublime und moderne Musiksprache.
Das Werk hätte eine Herausforderung sein können. Sowohl für die Interpreten in Dresden als auch für wegweisende künstlerische Auseinandersetzung gerade jetzt in der DDR.
Doch die Uraufführung wird, seit Mitte März definitiv, nicht stattfinden. Obwohl das Regieteam von Ruth Berghaus seit einem Jahr die Inszenierung vorbereitete, ergaben sich zunehmend Hindernisse an der Semperoper. Zuerst sprang im Herbst 1989 der vorgesehene Dirigent Jörg Peter Weigle ohne nähere Erklärungen ab. Die Absetzung des Projektes verhinderte nur, daß kurzfristig der junge und dem Stück gegenüber aufgeschlossene Dirigent Ingo Metzmacher aus Brüssel gewonnen werden konnte, bekannt unter anderem durch seine Arbeit mit Michael Gielen und den „Ensemble Modern“.
Was aber das Stück eigentlich scheitern ließ, sind Verfassung und Zustand der Institution Semperoper selbst. Zum einen gingen im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen im Oktober/November 1989 und mit der Absetzung des vorherigen Intendanten Gerd Schönfelder Planungsungenauigkeiten und zum Teil sachlich inkompetentes, von falschem Administrationsverständnis geprägtes Verhalten gegenüber dem Projekt auf die jetzigen Leitungsvorstände über. Zum anderen und vor allem aber sieht sich das Chorensemble den Anforderungen der Uraufführung nicht gewachsen. Weniger ist es die Überlastung des Chores durch einen Spielplan, der sich als repräsentatives Ausstellungsblatt einer oberflächlich auf Repräsentation ausgerichteten Kunstinstitution versteht. Mehr ist das Problem ein psychisch-künstlerisches. Denn was Inhalt und Musik der neuen Oper fordern, sind freie und individuelle Kreativität, die persönliche Bereitschaft, sich Unbekanntem und Unerprobtem zu stellen, Mut zum Risiko. Man sollte denken, letzteres gehöre selbstverständlich zu den Grundsätzen eines Ensembles, das sich gerne öffentlich auf sein traditionsreiches Verhältnis zur Moderne beruft.
Aber die Maßstäbe sind da wohl unklar in Dresden. Es gibt, auch im Zusammenhang mit dem '89er Herbst'offenbare Mißverständnisse der künstlerischen Orientierung. Da wird neues Demokratieverständnis verwechselt mit dem Widerstand gegen ein Werk und seiner Abwertung zum Unsinn, wenn es auf den ersten und zweiten Blick hohes Können und Eigenschöpferisches für die Realisierung verlangt. Kommen dazu noch fachliche Inkompetenzen, blüht nicht mehr die Kunst, sondern bestenfalls Kunstgewerbe. Wenn es denn das ist, was das Ensemble will? In Wahrheit existiert in Dresden wohl nur eines: das Festhalten.
Die Fakten und die Haltung, an welchen das Projekt Nachtwache scheitert, sind sowohl alarmierend als auch merkwürdig typisch für Vorgänge, wie sie jetzt allerorten an Theaterhäusern in der DDR stattfinden. Weder ist ein echtes Demokratieverständnis entfaltet noch die Differenzierung künstlerischer Werte, welches die jahrzehntelange politisch -gesellschaftliche Unmündigkeit und die kulturideologische Verdummung bis in die Maßstäbe des Einzelnen hinein ersetzen würde. Scheiterten Werke wie die Nachtwache vor dem November 1989 an reaktionärem Dogmatismus, so scheitern sie nun an der falschverstandenen Freiheit, dem immer noch konservativen künstlerischen Selbstverständnis (DDR-Mief in Fortsetzung), an der administrativen Erstickung aufgeklärter Inhalte und an der vordergründigen Orientierung an der Geldkuh.
Die Moloche, mit denen sich avacierte Kunst hier 40 Jahre auseinanderzusetzen hatte und die sie oft verschlangen, wirken unverändert. Was sonst ist es, wenn die Übernahme des Frankfurter Ring der Nibelungen von Wagner/Berghaus/Gielen an die Staatsoper Berlin von der dortigen (immer noch selben) Leitung zu Beginn diesen Jahres gestrichen wurde, weil es überflüssig sei?
Auch woanders wäre ein Werk wie die Nachtwache nicht leicht durchzusetzen; nicht zuletzt legt es den Finger in die Wunde verlogener Gesellschaftsformationen überhaupt, fragt nach dem Boden realer Demokratie. Aber gerade die Aufführung in Dresden hätte ein Zeichen setzen können, und das Nichtzustandekommen signalisiert sowohl den Bankrottzustand im geistig-künstlerischen Sinne in diesem Land als auch das ewige Unbeheimatetsein kritischen und modernen Kunstanspruchs. Am wenigsten erweist sich Substanz und Zukunftsorientierung dort, wo am meisten davon geredet wird. Die Utopie überwintert weiter, und zwar außerhalb der Oper.
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