: Akrobatik: Geht doch alles
■ Mein kleines Vorkriegs-Tagebuch, 5. Folge
10. Januar
Brief vom Finanzamt bekommen. Steuernachzahlung. Erst mal beiseite gelegt. Nichts übereilen.
»Man muß jetzt in die Prothetik gehen.« Jochen war schon immer etwas extrem in seinen Formulierungen. Inzwischen gesteigerter Zynismus. Ex-Politaktivist, abgeschlossener Akademiker, schlägt sich mit handwerklicher Gelegenheitsarbeit durch. Sitze ihm also auf umgedrehtem Eimer gegenüber. Renoviert gerade für mittelloses Dozentenehepaar (Sozialwissenschaftler/Medizin) Sechszimmerwohnung zum Solidaritätspreis.
»Prothetik als gesunde Geschäftsidee. Gibt ja bald wieder mehr Krüppel, habe ich der Frau Doktor gesagt. Die war indigniert. Sagte irgendwas von ‘schließlich Menschen‚. Da mag sie ja vorneweg recht haben, aber schließlich sind das keine Wehrpflichtigen, die da in der Wüste rumlungern, sondern freiwillige Berufssoldaten. Und wenn jetzt ein paar von denen als Einsatzverweigerer so ein Gezappel veranstalten, dann ist das ja aus alter Widerstandstradition ganz nett, wenn sich christliche und linke Gruppen um diese Deserteure kümmern. Aber genaugenommen sind das Berufsmörder, die plötzlich lieber kleine Diebe wären. Wie Feuerwehrleute, die den Löscheinsatz verweigern, weil ihnen in dem Moment der Berufswunsch Bademeister einfällt. Das muß man sich doch vorher überlegen, was für ein Mensch man sein will.
Also, stellen Sie sich vor, habe ich der Frau Doktor gesagt, so einem Soldatenmenschen sind beim Fronteinsatz unwiederbringlich beide Arme abhanden gekommen. Der Mensch kommt ins Zivilleben zurück und will sich morgens rasieren oder die Zähne putzen. Natürlich ist das schwierig, bei der kleinen Kriegsversehrtenrente. Also habe ich hier...« — Jochen kramt mehrere verbogene Drähte unter einem Haufen abgerissener Tapeten hervor — »zwei kostengünstige Modelle geformt. Die kann sich der Exkrieger hinter den Spiegel klemmen lassen. In das eine wird der Elektrorasierer, in das andere die elektrische Zahnbürste eingeklemmt. So, und jetzt muß der Betroffene nur noch mit seinem Armstumpf auf das Knöpfchen drücken und den Kopf bzw. die Zahnreihe am Gerät hin- und herbewegen. Geht doch alles.«
Realitätsakrobatik: Die einen steigern ihren Zynismus, um mit den Tatsachen fertigzuwerden; die anderen halten mit der Realität Schritt und erhöhen die Risikoprämie. Für Fluglinien im Bereich Nahost zum Beispiel. Der Aufschlag der Versicherer um 500 bis 1.000 Prozent hat viele Fluggesellschaften ihre Flüge in diese Region einstellen lassen. Und wieder andere in diesem Zynikerverbund fliegen immer noch: mit älteren Fluggeräten, die nicht so hoch versichert werden müssen.
In vier Schreibwarengeschäften gewesen, um breitformatigen Schreibtischkalender zu bekommen. Überall ausverkauft. Händler können die letzttägig schlagartige Nachfrage nicht erklären. Kann ja wohl nicht sein, daß alle ordentlich mitzählen wollen. Zyniker Jochen würde jetzt sagen, daß es nächstes Jahr viele mundgemalte Kalender geben wird.
Geballte Fäuste: UN-Resolution, Ultimatum, am 15. Januar ist Deadline. Öffne ich die Hand, sehe ich eine Lebenslinie. Wenn das so weitergeht, werde ich noch einen Bastelkurs an der Volkshochschule belegen: Friedenstauben falten. Christel Ehlert-Weber
Wird bis zum 16. Jan. fortgesetzt
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