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Advents–Alternativ–Trip in der Schweiz

■ In der Schweiz bescherten Volksabstimmungen am Nikolaussonntag goldene Taler für alternative Kultur und den öffentlichen Verkehr / Fürs Militär dagegen gabs zwei Mal die Rute - und für die Frauen / Revision der Kranken– und Mutterschaftsversicherung abgelehnt

Aus Basel Thomas Scheuer

Regelmäßig alle drei Monate werden Frau und Herr Schweizer zur Abstimmung über diverse kommunale, kantonale und Bundesvorlagen an die Urnen gerufen. Die Abstimmungsorgie am vergangenen Nikolaus–Sonntag bescherte vor allem den eidgenössischen Kommißköpfen eine handfeste Niederlage: Der seit Jahren heftig umstrittene Truppenübungsplatz im Hochmoor bei Rothenthurm in der Innerschweiz darf nach dem Plebiszit nicht gebaut werden. Die Gegner dieses Militärgeländes, das in einem der wertvollsten Hochmoorlandschaften Europas gebaut werden sollte, hatten, nachdem sie den ganzen Instanzenweg erfolglos durchwandert hatten, einen originellen Ausweg eingeschlagen: Sie lancierten eine Volksinitiative mit dem Ziel, einen neuen Artikel „zum Schutz der Moore“ in die Bundesverfassung einzuführen. Es war offensichtlich, daß dieser allgemein gehaltene Artikel, der sämtliche Baumaßnahmen in Mooren verbietet, konkret gegen den Truppenübungsplatz in Rothenthurm zielte. Mit um so größerer Überraschung wurde in Bern dann am Wochenende registriert, daß die „Rothenthurm–Initiative“ mit 57,9 Prozent der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: 47,4 Prozent) eine bundesweite Mehrheit fand. Maßgeblich für den sensationellen Rothenthurm–Durchbruch waren die hohen Ergebnisse in Basel und Genf (jeweils rund 70 Prozent). Im letzten Vierteljahrhundert wurden in der Schweiz von rund 90 Volksinitiativen nur neun angenommen. Das Ergebnis wurde in Bern auch deshalb als Sensation gewertet, weil sich das plebiszitäre Nein so eindeutig gegen ein Projekt der sonst so gehätschelten Armee richtete. Eiligst warnte Verteidigungsminister Koller davor, „aus dem Resultat etwas über die Haltung des Volkes zur Armee ableiten zu wollen“. Demnächst wird es diesbezüglich noch spannender: Dann kommt eine Initiative an die Urnen, die die Abschaffung der ganzen Armee verlangt! Auch die Zürcher Bürger scheinen vorübergehend auf dem vorweihnachtlichen Alternativ–Trip zu wandeln: Überraschend deutlich, nämlich mit über 60,5 Prozent, segneten sie einen 12 Millionen Franken–Zuschuß für das alternative Kulturzentrum „Rote Fabrik“ ab. Stadtregierung und -parlament hatten die Knete für Baumaßnahmen und laufende Betriebskosten des Zentrums bereits gebilligt. Doch ein Referendum der rechtsextremen „Nationalen Aktion für Volk und Heimat“ erzwang eine kantonale Volksabstimmung über den Kredit. Mit dem nun durch Volkes Stimme geweihten Cash ist das Weiterbestehen der „Roten Fabrik“ finanziell gesichert, weitere Auseinandersetzungen stehen jedoch um das zwischen Stadt und Nutzern strittige Trägerschaftsmodell ins Haus. Der langjährige Clinch um die „Rote Fabrik“ hatte bereits bei den Opernhaus–Krawallen im Frühsommer 1980 eine Rolle gespielt. Dagegen lehnten die spendablen Zürcher nun im gleichen Urnengang am vergangenen Sonntag einen 72–Millionen–Kredit zum Umbau einer Kaserne in ein Polizeizentrum ab. Quartiergruppen und Bürgerinitiativen hatten statt dessen ein Stadtteilzentrum mit Erholungspark ge fordert, dessen Realisierungschancen nun wieder steigen. Ebenfalls deutlich fiel auf Bundesebene mit 57 Prozent das Votum für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs aus: Das von der Regierung vorgelegte Konzept „Bahn 2000“ soll in einem Zwölf– Jahresprogramm durch den forcierten Ausbau des schweizeri schen Schienensystems, eine bessere Erschließung abgelegener Randregionen und eine Verknüpfung von Nah– und Fernverkehrsnetzen den öffentlichen Verkehr zu einer echten Alternative gegenüber dem privaten Autoverkehr entwickeln. Mit dem Votum für die „Bahn 2000“, dem wegen der Drehscheibenfunktion der Schweiz im europäischen Verkehrsverbund über das Land hinaus große Bedeutung zukommt, dürfte die erste Weiche für eine im nächsten Jahr anstehende Grundsatzentscheidung gestellt sein: Ob nämlich durch den vom Nord– Süd–Fernverkehr völlig überlasteten Gotthard eine zweite Auto bahn–Röhre oder ein rund 40 Kilometer langer Eisenbahn–Basistunnel für den Huckepack–Verkehr gebohrt wird. Kein Wunder, daß „Bahn 2000“ vor allem im Tessin und in Graubünden viele Stimmen bekam, also in jenen Alpenkantonen, die von den Blechlawinen der beiden großen Alpentraversalen (Tessin = Gotthardo–Route; Graubünden = Bernardino– Route) stark betroffen sind. Doch auch dem Eindruck, die ganze Schweiz sei neuerdings auf dem Anti–Militär– und Öko–Trip, wurde vorgebeugt: Die von der Regierung vorgeschlagene Revision der Kranken– und Mutterschaftsversicherung, die vor allem die Situation nicht erwerbstätiger Frauen und Mütter verbessert hätte, wurde überdeutlich mit 72,5 Prozent in der Urne begraben. Nur 29 von 100 stimmten dafür. Gegen diese Revision hatte der Gewerbeverband, also die Lobby der Krämerseelen, das Referendum ergriffen.

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