: Abwehr und Verdrängung
■ betr.: „Goldhagen im Internet“, taz vom 16. 7. 96
Vorweg: Für Menschen nicht- englischer Muttersprache ist das Buch schwer zu lesen, nicht nur, weil materialreich dokumentiert, sondern auch, weil es in einem sehr differenzierten Sprachstil geschrieben ist. Um so mehr verwundert die breite mediale Diskussion in Deutschland, bevor das Werk überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde. Wo gibt es das schon, daß die „Fachdiskussion“ zum Werk zeitgleich mit der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe erscheint?
Das Thema allein kann es nicht sein. Veröffentlichungen zum Holocaust an den Juden sind in den letzten Jahren viele erschienen, und täglich werden es mehr. Irgend etwas an der Aussage dieses Buchs muß einen Nerv getroffen haben. Dies kann ich bestätigen.
Mir hat die Lektüre plötzlich Antworten auf Fragen eröffnet, die ich – Kind von Nazi-Eltern – seit mehr als 40 Jahren mit mir herumschleppe. Beispiele: Wie konnte ein einzelner Mensch eine ganze Gesellschaft dazu bringen, ihm so begeistert bis in den „Untergang“ zu folgen? Wieso wurden auch nach der Besetzung Deutschlands noch Juden erschlagen – als DPs (displaced persons)? Wieso gibt es so viele „berühmte“ Leute in unserer Gesellschaft, deren expliziter Antisemitismus allenfalls beiläufig erwähnt, für ihr Werk jedoch als belanglos abgetan wird? Wieso gibt es internationale Konflikte, die plötzlich, und fast unorganisiert, in unserem Land Millionen auf die Straße bringen (Golfkrieg), während im allgemeinen doch der Fernsehsessel, die Kollegen- und Stammtisch-Diskussion als ausreichend angesehen wird?
Daniel Goldhagen hat einfach zwei längst erforschte Geschichtsstränge in einen – sehr einleuchtenden – Zusammenhang gebracht und damit neues Verständnis möglich gemacht: die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, zunächst religiös, dann rassisch gespeist einerseits, Konzept, Planung und Durchführung des Holocaust an den Juden durch Deutsche andererseits.
Er belegt, wie sich der Antisemitismus in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert zum Kollektivwahn in Deutschland entwickelt hatte. Kulturelles Allgemeingut war: Die Juden sind unser Unglück. Sie sind ein Problem. Judengegner und -„freunde“ unterschieden sich dann nur noch darin, wie mit dem Problem umzugehen sei, welche „Lösung“ es gebe. Gerade auf die Wiedergabe der Lösungsvorschläge von scheinbaren Nicht-Antisemiten legt Goldhagen großen Wert und belegt damit den durchgängigen Antisemitismus.
Auf einmal erscheint damit auch die breite Debatte im deutschsprachigen Raum über Assimilation oder Zionismus als „Lösung“, die in dieser Zeit von Bürgern jüdischen Glaubens selbst begonnen und geführt wurde, als vom Antisemitismus ausgelöst. Wie ist es möglich, daß nicht die uns selbstverständliche Forderung nach kultureller Autonomie bei gleichzeitiger gleichberechtigter Staatsbürgerschaft diskussionsleitend war, sondern nur die Alternativen Unterwerfung oder Weggehen als Möglichkeiten gesehen wurden?
Das war das geistige Klima, in dem „die Deutschen“ alle sie befallenden Übel – verlorener Weltkrieg, Wirtschaftskrise, Bolschewismus – den Juden anlasteten. Und in diesem kollektiven Wahn befangen wurde Hitler dann von der überwältigenden Mehrheit begeistert als „Erlöser“ angenommen. Nicht Hitler hat eine Gesellschaft „verführt“, sondern er hat den wahnhaften Sehnsüchten dieser Gesellschaft Möglichkeiten der Erfüllung geschaffen.
Deshalb, weil die überwältigende Mehrheit in Deutschland überzeugt war, daß die Gesellschaft nur genesen könne, wenn sie sich von den Juden befreie, deshalb konnten brave, rechtschaffene und anständige Väter, Mütter, Söhne, Töchter sich an dem schmutzigen Mordgeschäft beteiligen – und doch „anständig“ bleiben. Goldhagen sät massive Zweifel daran, daß es nur Minderheiten krimineller grober Mordgesellen waren, die das taten, alle anderen nur gezwungen. Kollektivwahn war es, nicht Bosheit, nicht rassisch bedingt (die Deutschen sind eben so), wie der Spiegel Goldhagen verfälscht.
Die hierfür von Goldhagen zusammengetragenen Indizien sind schmerzhaft einleuchtend.
So, das tut (auch mir) weh. Aber wie gehen wir damit um? Statt diese Überlegungen an uns heranzulassen, um möglicherweise etwas Wichtiges aus Geschichte zu lernen, wird Abwehrkampf inszeniert. Dabei: Erinnert nicht so manches an der „Asyl“-Debatte, diesem „Problem“, fatal an die alten Zeiten? Dabei sind es nur wenige Jahre, die diese Diskussion geführt wird. Wer ist bereit, zwischen dieser „intellektuellen Debatte“ und den Morden an Ausländern Zusammenhänge herzustellen? Debattenbeiträge dieser Art sind extreme Ausnahmen.
Vor diesem Hintergrund wird eine mediale Schau inszeniert „Wie werden wir armen Deutschen doch mal wieder ungerecht angegriffen“. Das funktioniert nur, wenn ich Goldhagens Thesen verkürze, ja verfälsche, was im Spiegel, der die Debatte eröffnete, eklatant geschah, aber auch in einen großem Teil der Debatte in der Zeit, von angesehenen Historikern geführt. Ich unterstelle nicht, daß die Autoren das Buch gar nicht richtig gelesen haben. Vielmehr glaube ich, daß die Motive Abwehr und Verdrängung die Meinungen und Formulierungen leiten. [...]
Und nun setzt die taz dies antiaufklärerisch fort, indem sie einen Amerikaner (damit natürlich extrem glaubwürdig) uns beruhigen läßt, daß im Internet die Mehrzahl der Diskussionsbeiträge Goldhagen nicht beipflichten und – wie schön – sogar unter den Nichtdeutschen noch viel mehr.
Schlimmer noch ist die Verkürzung der Goldhagen-Thesen auf einen einzigen Satz im Kasten unten, weil sie – ohne Autorenangabe – so scheinobjektiv daherkommt. Und welche Verdrängung veranlaßte den Autor, Antisemitismus (eine uns allen wohlbekannte und vertraute kulturelle Chiffre) auf „Judenfeindschaft“ zu verkürzen, mit der wir nun sicher alle nichts zu tun haben?
Mit Erschrecken begegne ich – nach jahrzehntelangem Bemühen, den Verdrängungen der Elterngeneration entgegenzutreten – nun den Verdrängungen der zweiten Generation: Nicht nur, daß mir so viele begegnen, die „Widerständler“ in der Elterngeneration für sich reklamieren, aber kaum jemanden, der sich zu seiner nationalsozialistisch infizierten Elterngeneration bekennt. Waren das nicht eigentlich viel, viel mehr?
Politisch unmittelbar relevant wird das in dem zweiten Beispiel: Vehement wurden zu Beginn rassistisch motivierte Übergriffe auf Ausländer, Schwächere entpolitisiert, bis die Zeichen, Insignien unübersehbar wurden. Aber die Verdrängung setzt sich bis heute fort. Wir wollen weder das Ausmaß des Problems sehen – die stillschweigende Kumpanei von Staatsorganen mit den Tätern, die Aufklärung erschweren und die Gesellschaft beruhigen noch die Zusammenhänge mit der intellektuellen Ebene: der Diskussion des Ausländer- und Asylanten„problems“, die zum Glück nun die mediale Ebene nicht mehr bis in alle politischen Richtungen hinein erreicht, deswegen jedoch keineswegs beendet ist.
Meine Generation – die Generation der Täter-Kinder – ist es, die heute im wesentlichen die Geschicke unserer Gesellschaft lenkt (Opfer-Kinder haben bei uns weniger zu sagen; keine Frage der Ausgrenzung, sondern der Quantität). Ich wünsche mir möglichst viele darunter, die aus unserer Geschichte Richtiges gelernt haben. Ich erwarte von aufklärerischen Medien, an herausragender Stelle sehe ich hier die taz, daß sie mit diesem Thema, das für uns so wichtig ist, sorgfältig und aufklärerisch umgehen. Hedda Jungfer,
Diplom-Psychologin, München
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