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Absolut amoralisches Spiel

Früher nannte man solche wie sie einen Star: Das „Checkpoint“ zeigt Filme mit Jean Seberg  ■ Von Anja Seeliger

„Die Haut eines jungen Mädchens ist immer aufregender“, schnurrt Raymond (David Niven) seiner jungen Geliebten ins Ohr, die ihn gerade auf seine, ihm dem Alter nach angemessene, Verlobte angesprochen hat. Man sieht ihn nicht, man sieht nur seine Verlobte (Deborah Kerr), die ihm zuhört. Obwohl Kerr schon eine leading lady war, bevor Strasberg in Mode kam, hat man den Eindruck von reinstem method-acting. Es scheint kaum glaubhaft, daß jemand eine derartige Entgleisung der Gesichtszüge spielen kann. Verärgert schreckt der Zuschauer hoch, weil er da plötzlich von einer Tragödie gefesselt wird, die ihn absolut nicht interessiert, doch die Kamera hat sofort ein Einsehen und richtet sich wieder auf die andere.

Jean Seberg spielt in „Bonjour Tristesse“ die 17jährige Tochter Raymonds, die Kerr aus Eifersucht in den Selbstmord treibt, und es ist absolut unerträglich, wenn die Kamera sie – selten – aus den Augen verliert. Sie ist sehr schön mit ihren kurzgeschnittenen Haaren, aber es liegt nicht nur an ihrer Schönheit. Es gibt eine so vollkommene Übereinstimmung zwischen ihr und diesem Film, daß man plötzlich das Gefühl hat, beim Psychiater zu sein. Premingers fanatische Kamera fängt jeden Blick, jede Kopfbewegung, jede Geste ein, und man folgt ihr, und schließlich fragt man sich schockiert, ob jetzt Seberg oder Preminger auf eine dermaßen ärgerliche Ablenkung wie die Kerr verfallen ist.

Die amerikanische Presse verriß „Bonjour Tristesse“, warum, bleibt ihr Geheimnis, es sei denn, man akzeptiert das lächerliche Argument, Niven sei für einen Franzosen viel zu englisch. Seberg fand kaum Beachtung. Einzig Godard hatte Augen im Kopf und besetzte sie ein Jahr später in „Außer Atem“, ein Film, der sie allerdings außen vor läßt. Anders als Belmondo bleibt sie in Godards Schnitt-Stakkato ein Fragment.

Zuwenig Distanz bei Preminger, zuviel bei Godard. Ihr Geheimnis offenbart sie in Philippe de Brocas wunderbarem „Liebhaber für fünf Tage“ – einem Film über die Libertinage, der hinter das Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ ein fett unterstrichenes „Leider!“ setzt. Denn wer kann es sich heute schon erlauben, müßig zu sein? Claire (Seberg) betrügt ihren Ehemann George mit Antoine (Jean-Pierre Cassel), der sich seinerseits von Madeleine, der reichen Inhaberin eines Modesalons, aushalten läßt. Die Haltbarkeit dieses schönen Arrangements beruht nicht unwesentlich auf den Lügen, die jeder darum spinnt: Madeleine glaubt, daß sie Antoine lieben, aber, indem sie ihn finanziert, den Verletzungen der Liebe entgehen kann. George, ein kleiner Archivar, träumt davon, eines Tages Generalinspektor der Pariser Münzsammlung zu werden. Claire schwindelt ihrem Liebhaber vor, daß sie die Wochenenden mit ihrem fabelhaft reichen Industriellengatten auf ihrem Landsitz verbringt. Antoine gibt vor, als angeblicher Mitbesitzer des Modesalons nur geschäftliches Interesse an Madeleine zu haben.

Man sollte meinen, daß zwei so reiche Liebende sich ein schickes Appartement als Nest leisten können. Statt dessen treffen sie sich in einer winzigen Wohnung in einem schäbigen Mietshaus. Wenn Claire zu spät nach Hause kommt, erklärt George den Kindern: „Sie ist spät dran, und warum? Weil sie so hohe Absätze trägt, damit kann man eben schlecht laufen.“ De Broca zeigt, ohne viele Worte zu machen, wie erstaunlich wenig Mühe sich jeder mit seinen Lügen gibt, vollkommen darauf vertrauend, daß der andere kein Spielverderber ist. Denn schließlich – auf irgendeine Illusion ist jeder angewiesen. Die Liebe ganz besonders. Antoine verletzt schließlich die Spielregeln, als er die süßen Nachmittagsstunden aufgeben will, um Claire zu heiraten und einer Arbeit (!) nachzugehen. Für de Broca ein krasser Verrat an der Liebe, der umgehend bestraft wird: Als Antoine der entsetzten Claire das Leben zu zweit ausmalt, ist das weniger ehrbar als komisch, gleicht es doch aufs Haar Claires Eheleben mit George.

Was sich wie eine ziemlich verwickelte Geschichte anhört, ist in Wahrheit noch viel komplizierter. De Broca macht überhaupt keinen Unterschied zwischen den einzelnen Hirngespinsten. Antoines Märchen, daß er ein reicher, unabhängiger Mann sei, ist ihm gerade soviel wert wie dessen lachhafter Einfall, Madeleines Geldbeutel zu verschmähen und wieder als Vertreter zu arbeiten. Claire wiederum liebt Antoine, zumindest solange er seine Rolle als Liebhaber spielt, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß sie auch George liebt und seinen Wunsch, irgendwann Generalinspektor der Münzsammlung zu werden, leidenschaflich unterstützt: „Dann gehören wir zur Pariser Gesellschaft. Ach George, ich vergöttere dich.“

Seberg ist die perfekte Verkörperung von de Brocas amoralischem Spiel, sie geht sogar noch darüber hinaus. Man sieht sie in einer Liebesszene mit Antoine und denkt, du meine Güte, wie sehr sie verliebt ist, wie – intensiv. Und dann sieht man sie beim Tanzen und denkt dasselbe. Und plötzlich wird einem klar, daß Seberg alles auf dieselbe Art tut: Sie liebt einen Mann, sie bewundert eine Blume, sie geht zum Pferderennen und zum Tanzen, sie liebt einen anderen Mann, und einmal sieht man sie beim Erlernen eines Holzschuhtanzes. Und sie tut alles mit der absolut gleichen, atemberaubenden Intensität. Sie macht nicht den geringsten Unterschied. Man kann das für einen Fehler halten, wenn man will. Aber für eine Schauspielerin ist es ein Glück. Seberg ist hundertprozentig wach und aufmerksam. Und doch ist sie ganz für sich. Sie antwortet den anderen konzentriert, sie spielt in jedem Film mit, aber daneben hat sie noch ihren eigenen. Es ist befremdlich und zugleich großartig. Früher nannte man so eine Schauspielerin einen Star.

Jean-Seberg-Filme im „Checkpoint“: Noch bis zum 24.11., um 20 Uhr „Bonjour Tristesse“.

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