: Abgeschnittene Protokolle
Bei Martina Schellhorns Gesprächen mit ostdeutschen Jugendlichen bleibt das Wichtigste ungedruckt – die Broschüre „WendeKinder“
Sie waren die jüngsten DDR-Bürger. Geboren in den Wendewirren 1989/90, gewickelt mit den obligatorischen Spreizwindelhöschen von Pneumant, aufgepäppelt mit KiNa-Brei aus Wurzen. Ein halbes Jahr später gab man ihnen dann Pampers, Alete und einen Kinderpass, mit dem ihre Eltern sie nach Kreta statt Prag in den Urlaub mitgenommen haben.
Kinder dieses Jahrgangs sind inzwischen junge Erwachsene. Die Autorin Martina Schellhorn hat sie für ihr Buch „WendeKinder“ interviewt, sie dazu befragt, was ihr Geburtsjahr ihnen heute sagt. Nicht viel, muss nach Lektüre der 96-seitigen Broschüre festgestellt werden. Die 26 Mädchen und Jungen – alle aus Brandenburg – haben andere Themen, über die sie sprechen wollen: Sport etwa, Schule. Und ihre Familie. Dass dort die Oral History der untergegangenen DDR gepflegt wird, darf vermutet werden – doch die Jugendlichen interessiert das kaum. „Über die DDR kann ich nicht viel sagen“, gibt etwa Matthias zu Protokoll, „weil ich davon nichts mehr mitbekommen habe als Baby.“
Ein Satz, der das grundsätzliche Problem von „WendeKinder“ umreißt. Denn wohl taugt ein solches Geburtsjahr jederzeit zu einer kleinen Anekdote. Doch reicht das, etwas Interessantes mitzuteilen? Die Autorin muss im Laufe der Interviews bemerkt haben, dass bei ihren Gesprächspartnern zum Thema „Geboren in der Zwischenzeit“ nicht viel zu holen ist. So weicht sie aus auf die Jetztzeit der Jugendlichen. Sie befragt sie zu ihren Ängsten, zu Zukunftsperspektiven, ihrem Heimatbegriff – und schneidet ihnen stets vor der Zeit das Wort ab.
Denn jedem Jugendlichen, ob Christina oder Pia, Robert oder Steven, gibt sie nur zwei bis vier Seiten Raum. Wenn es anfängt, interessant zu werden, ist schon wieder Schluss. Etwa bei Paula aus Potsdam, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft ist. Wenn Paula von ihrer Zeit erzählt, die sie mit Punks am Hauptbahnhof abgehangen hat, hofft der Leser darauf, etwas Authentisches aus dem Leben ostdeutscher Jugendlicher zu erfahren. Aber Martina Schellhorn, die sicher viele gute O-Töne von der 15-jährigen Gymnasiastin auf ihrem Band hatte, opfert diese zugunsten ihrer eigenen Dramaturgie – das Protokoll schwenkt übergangslos um zu Paulas Sichtweise auf „Deutschland sucht den Superstar“ und ihre horrenden Handyrechnungen. Schade.
Wenn „WendeKinder“ etwas mitzuteilen hat, dann dass die Kinder jener Eltern, die 1989 Mitte zwanzig waren, längst in der Bundesrepublik angekommen sind. Und dass sich ihnen die Frage nach gesellschaftlicher Wertung nicht stellt – nicht im Kontext der Wiedervereinigung. Interessanter ist da schon, wie sich die aktuelle Politik auf ihr Leben auswirkt. Etwa auf das von Karolin aus Kunow, einem Dorf in der strukturschwachen Prignitz, deren Schule geschlossen wird. „Unser Klassenlehrer ist geblieben, aber der Direktor ist weg“, sagt das Mädchen mit den kajalumrandeten Augen, das einmal Tierpflegerin werden möchte.
So ein Satz erzählt viel über die demografische Misere in Ostdeutschland. Allein in Brandenburg ist jede vierte Schule von Schließung bedroht. Man möchte mehr darüber erfahren, wie es sich anfühlt, eine Schule zu besuchen, in der Unterricht nur noch markiert wird, was das macht mit einem jungen Menschen, der nach Identifikation mit dieser Gesellschaft sucht. Aber Karolin hat nicht einmal ganze zwei Seiten und soll auf diesem knapp bemessenen Raum Autorin Schellhorn noch die Frage nach ihren Fernsehgewohnheiten beantworten. „Marienhof“ und „Verbotene Liebe“ schaut sie gern, das weiß der Leser nun. Das Wichtigste bleibt ungedruckt. ANJA MAIER
Martina Schellhorn: „WendeKinder“. 96 Seiten, kostenfrei über die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung: www.politische-bildung-brandenburg.de