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Aber sie „brabbelt lieb“ ...

■ Frühstück bei der schwerpflegebedürftigen 93jährigen Gertrud S., für die eine ständige ambulante Betreuung überlebensnotwendig ist

Schwester Annegret* schiebt das Rollo hoch, rosa Morgenlicht scheint ins Zimmer. Mit zärtlichen Worten weckt sie Gertrud S., nimmt der alten Frau die Babypuppe ab, die diese an ihre Brust gedrückt hält, lüftet die Decke und entfernt die Kissen, die den Körper der Patientin stützen. Die 93jährige wird gewickelt und gewaschen, ihr Körper mit Babyöl eingecremt.

Gertrud S. ist verwirrt und vollständig hilfebedürftig. Würden die Frauen eines ambulanten Pflegedienstes nicht viermal am Tag kommen, wäre sie in kurzer Zeit tot, sagt Schwester Annegret. Vom stocksteifen Liegen auf der Matratze ist die Haut am Rücken durchgescheuert, über dem After klafft ein Markstück-großes Loch. Weil sie einnäßt, muß dieses „Dekubitum“ mehrmals am Tag gespült, neu gesalbt und verbunden werden. „Es war mal viel größer“, schildert Schwester Annegret. Sie habe Hoffnung, daß das Loch im Körper ihrer Patientin wieder verheilt.

Die gelernte Altenpflegerin kennt die alte Dame seit vier Jahren, damals konnte Gertrud S. noch gehen und einen Haushalt führen. Doch seit einem Sturz vor zweieinhalb Jahren steht sie nicht mehr auf. An den Wänden der Anderthalb-Zimmerwohnung in einem Eppendorfer Altenstift hängen Fotos ihrer Söhne, kräftige Männer, die an dem letzten Lebensabschnitt ihrer Mutter kaum Anteil nehmen.

Das seidige weiße Haar wird nach hinten gebürstet und mit einem Haarring zusammengefaßt. Die runden blauen Augen begutachten mißtrauisch die Reporterin. Obwohl so hilflos, strömt Engergie von der 93jährigen aus. Sie kann keine ganzen Sätze mehr bilden, aber sie „brabbelt lieb“, wie es in dem Übergabeheft heißt, das neben einer Fülle von Verbandsmaterial, Medikamenten und Salben auf dem Wohnzimmertisch steht. Gertrud S. ist bei den Pflegerinnen, die sich abwechselnd um sie kümmern, beliebt. „Sie war gut drauf“, „sie war sehr lustig“, steht bei den Bemerkungen im Buch. Wenn sie eine schlechte Nacht hatte, kann es aber auch sein, daß sie sich wehrt und um sich boxt, erzählt die Schwester.

Das Waschen und Wenden, die schwerste Arbeit, ist vollbracht. „Nee, kann ich nicht“, wehrt sich Gertrud S., als Schwester Annegret ihr die Zahnbürste zeigt. Sanft schiebt sie sie an den Mund und bürstet trotzdem. Dann kommt das Frühstück. „Honigbrot?“ fragt die Schwester. „Nee!“ „Rührei?“ „Ja, Ei“. Die nächsten Sätz sind weniger klar. „Mein“, sagt sie, wenn man die Puppe zeigt. Und „das Quatsch“ zum Teddy, der in der Triangel über dem Krankenbett schwebt. Eine Adventskerze steht neben dem Fernseher. Manchmal, berichtet Annegret, sieht sie auch einen Film oder hört Klassik. So gleiten die Tage dahin.

Das Frühstücken dauert. Mal ist der Kakao zu heiß, dann braucht die alte Dame Pause zwischen den Häppchen. Würde man sie in ein Pflegeheim stecken, bekäme sie nicht die Aufmerksamkeit, die verwirrte Menschen brauchen, sagt Annegret. Der Mensch, der vor ihr liegt, ist eine Aufgabe. Undenkbar, einen der vier täglichen Besuche zu unterlassen, weil die Kasse nicht mehr zahlt. Kaija Kutter

*Namen geändert

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