AUCH JOHANNES RAUS LETZTE BERLINER REDE WAR ZU LEISE GEHALTEN : Der unterschätzte Bundespräsident
Kein Bundespräsident hat jemals so scharfe Kritik an den führenden Vertretern von Staat und Wirtschaft geübt wie gestern Johannes Rau in der letzten Grundsatzrede seiner Amtszeit. Und dennoch sei die Prognose gewagt: Die Republik wird die mahnenden Worte kaum zur Kenntnis nehmen. Das hat schließlich schon Tradition. Nach wie vor gelten Roman Herzog und Richard von Weizsäcker als intellektuelle Größen, an die ihr Nachfolger nicht heranreichen konnte. Dabei hat Johannes Rau weit häufiger als sie und auch viel pointierter Stellung bezogen: Er warnte vor den Gefahren einer Forschung ohne ethische Grenzen, begründete, warum Krieg niemals ein Mittel der Politik sein darf, äußerte sich mutig zum Kopftuchstreit und benannte klar die Ungerechtigkeiten, die mit dem Prozess der Globalisierung einhergehen.
Wirkungslos sind diese Äußerungen nicht geblieben. Aber sie haben stets nur jene Teilöffentlichkeiten erreicht, die sich für das jeweilige Gebiet in besonderem Maße interessierten. Johannes Rau verfügt über die Gabe, den Eindruck zu vermitteln, dass er die Menschen und ihre Anliegen ernst nimmt. In diesem Sinne ist er das gewesen, was er gerne sein wollte: ein Präsident aller Bürgerinnen und Bürger. Medienwirksam war sein Auftreten jedoch nicht. Dazu spricht er allzu bedächtig, dafür sind seine Töne allzu leise. Man mag dies mit Recht für einen Vorzug halten. Aber es hat dazu geführt, dass ihm selbst mit äußerst provokanten Reden die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit versagt geblieben ist. Leider. Gerade seine letzte Rede hätte es verdient, die Schlagzeilen zu beherrschen.
Johannes Rau wird im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung dennoch Spuren hinterlassen, und zwar als ein Politiker, der Respekt vor demokratischen Institutionen gefordert und ihnen selbst diesen Respekt auch erwiesen hat. Groß war sein Ärger darüber, dass er im Streit über das Zuwanderungsgesetz zu Wahlkampfzwecken missbraucht werden sollte. Er wirkte glaubwürdig in seiner Empörung über diese Missachtung des höchsten Staatsamtes. Das ist heutzutage schon ziemlich viel. BETTINA GAUS