: ALLES WIEDERHOLT SICH IMMER
■ Im Hamburger Bahnhof zelebriert das Theater Antonin Artaud die Schmerzen von „Jericho“
„Und im übrigen bin ich der Meinung, Kathargo muß zerstört werden.“ Dieses immergleiche „ceterum censeo“ hat sich überliefert, weil es im römischen Senat wirklich nach jeder Rede wie eine feststehende Formel wiederholt wurde, den Zuhörern wieder und wieder eingehämmert wurde und schließlich tatsächlich stattfand. Das Theater Antonin Artaud wiederholt diesen Satz nicht, es läuft ihn.
Der Hauptdarsteller Jean Marie umrundet wie im Ritual unter Stöhnen, Keuchen und Mühsal die Innenfläche des Hamburger Bahnhofs, der sich so zum antiken Stadion des Marathonläufers wandelt und gleichzeitig die uneinnehmbare Stadt Jericho wird, deren Zerstörung in der alttestamentarischen Überlieferung erst durch siebenfaches Umrunden möglich wird.
Am Anfang war das Bild. „Jericho“ verzichtet fast ganz auf das Wort. Nur manchmal kommen unverständliche Klagegesänge über die Lippen der Dolorosa. Sonst besteht der Abend aus der Reduktion auf die spärlichsten Bewegungen und Handlungsfragmente, die durch ihre zeitliche Dehnung, die Wiederholung und die Relation zu dem maschinengroßen Raum des Hamburger Bahnhofs zu Bildern werden.
Lange, lange verfolgt man im zweiten Bild den Weg der Geige spielenden Frauengestalt, wenn sie im schwarzen Trauergewand die 80 Meter des Raumes entlang kriecht. Durch die stumme Wiederholung steigern sich Frau und Mann auf religiös ekstatische Weise in die Rituale des Leidens hinein. Jede neue Begegnung mit der klagenden, durch ihren verschmähten, nackten Körper erniedrigten Frau ist ein Mißlingen. Vielleicht ist sie beides, die zerstörte Stadt und Rahab, die Hure, die einzige, die der biblischen Legende nach der Zerstörung Jerichos um 7000 v. Chr. (!) entging. Für den Läufer gilt: kreist er einmal auf seiner Bahn der Stadtumrundung, dann kann es keine Abweichung, keinen gemeinsamen Weg mit der Frau mehr geben. Aus der Begegnung wird keine Berührung.
Immer verzweifelter hallen die Schritte des Läufers durch die große Weite des Bahnhofsraumes, immer quälender wird die Repetition der Vergeblichkeit. Um den Zuschauer wirklich in die rituelle Ekstase hineinzuziehen, hätte es allerdings noch mehr rhythmischer Steigerung und Dichte bedurft, hier jedoch bricht die Wiederholung einfach ab und findet kein Ende.
Susanne Raubold
„Jericho“, bis 3. Juni, Mo-Sa 21.30 Uhr, im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße. Parallel zum Projekt sind Arbeiten von bildenden Künstlern entstanden und dort ausgestellt.
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