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Seit 1948 hat kein Parteivorsitzender der SPD ein besseres Ergebnis erhalten als Matthias Platzeck
AUS KARLSRUHE JENS KÖNIG
Als Matthias Platzeck zum SPD-Vorsitzenden gewählt worden war und die gesamte Führungsriege der Partei auf ihn zugestürmt kam, konnte man ganz gut beobachten, was die Genossen an ihrem neuen Vorsitzenden haben: einen Typen zum Anfassen, einen, der andere gern umarmt und sich gern umarmen lässt. In der SPD ist in der jüngeren Parteigeschichte wohl selten so viel geherzt, gedrückt und geküsst worden wie in diesem Moment auf der Bühne der Karlsruher Messehalle, als Platzeck in deren Mitte stand und die überschäumenden Glückwünsche aller Umstehenden entgegennahm. Selbst DGB-Vorsitzender Sommer war aus den Reihen der Delegierten nach vorne gestürmt.
Rührende Szenen waren da zu besichtigen, etwa die, wie in der SPD weithin unbekannte Landeschefs aus dem Osten ihrem langjährigen Freund Matthias innig um den Hals fielen oder auch wie ungelenk ein nüchterner Finanzpolitiker wie Joachim Poss seinen Kopf auf die Schulter seines neuen Vorsitzenden legte.
Everybodys Darling hatte ein Traumergebnis bei seiner Wahl zum SPD- Chef eingefahren: 512 von 515 Stimmen für Platzeck, 99,42 Prozent, wie die Zahlenfetischisten unter den Journalisten sofort errechneten – das beste Resultat seit 1948, als mit Kurt Schumacher der Gründungsvorsitzende der Partei wiedergewählt worden war. „Die Zahl erinnert an alte Zeiten“, räumte der Ostdeutsche Platzeck lässig ein, „aber dieses Ergebnis hier ist wohl regulär zustande gekommen.“
Das war es allemal, und so konnte er entspannt davon erzählen, dass sein Vater überhaupt nicht begeistert gewesen sei, als der Sohn 1995 in die SPD eintrat, aber einen Rat habe der Vater ihm nichtsdestotrotz mit auf den Weg gegeben: Wenn du schon in eine Partei gehst, dann versuche wenigstens ihr Vorsitzender zu werden. Diesen Rat hat Platzeck beherzigt, wobei es immer noch unklar ist, ob er jemand ist, der solche Posten anstrebt oder ob sie ihm nicht vielmehr zufallen.
Wenn Letzteres stimmen sollte und Platzeck wirklich jemand ist, der in Krisensituationen gerufen wird, dann lieferte seine erste Vorsitzendenrede an diesem Dienstag eine Erklärung dafür, warum das so sein könnte. Platzeck ist eine ideale Projektionsfläche für die Sehnsüchte einer verunsicherten Partei. Er wirkt trotz seiner 51 Jahre immer noch jung und dynamisch, seine Sprache ist unverbraucht, er kann eine Aufbruchstimmung erzeugen, bleibt in seinen Ansichten dabei jedoch hinreichend allgemein, sodass ihm auch diejenigen zustimmen können, die eigentlich anderer Meinung sind, diesen Unterschied in dem entscheidenden Moment aber nicht bemerken.
Der Parteilinke Karl Lauterbach nannte den Auftritt Platzecks wegen all dieser Besonderheiten „kennedyesk“ – eine vielleicht etwas hochtrabende, aber dennoch nicht ganz unzutreffende Formulierung. Ein Ost-Kennedy für geistig verarmte Sozis sozusagen. Das Wahlergebnis war ja auch ein Beweis dafür, dass alle Sozialdemokraten über alle Parteiflügel hinweg Platzecks Worte in ihrem Sinne verstanden hatten.
So war die Rede auch angelegt: als eine sozialdemokratische Selbstvergewisserung in unruhigen Zeiten. Platzeck definierte die SPD als Volkspartei der „linken Mitte“ – bei Schröder hieß das 1998 ff. bekanntermaßen noch „neue Mitte“ – und grenzte sie unter großem Beifall von der „umbenannten PDS“ genauso ab wie von den christdemokratischen und liberalen „Marktradikalen“. Die SPD als „einzige Partei“, die sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Dynamik zusammen garantiere. Die SPD als eine Partei, die genau wegen dieser Einzigartigkeit immer regieren müsse, weil sie ja „kein Selbstzweck“ sei, sondern „für die Menschen“ da. In diesem Sinne entpuppte sich Platzeck als Anhänger des „goldenen Satzes“ von Müntefering, wonach Opposition Mist sei. Dass die SPD in der großen Koalition ihre Identität verlieren könnte – diese Befürchtung teilte der neue Parteichef „ganz ausdrücklich“ nicht.
Den eigentlichen Schwerpunkt seiner Rede bildete der geistige Überbau seiner Politik, die er in Brandenburg seit mehr als drei Jahren ausprobiert. So sprach er viel von der Gefahr des Auseinanderfallens der modernen Gesellschaften in „Insider und Outsider“. Die „Rebellion“ der Jugendlichen in Frankreich nannte er dafür als warnendes Beispiel. Platzecks Rezept dagegen: „soziale Durchlässigkeit“. Und Bildung, immer wieder Bildung. Platzecks ehrgeiziges Ziel: die SPD als die „Bildungspartei des 21. Jahrhunderts“. Viel Arbeit für die Partei, wenn das Wirklichkeit werden soll. Der neue Parteichef erinnerte mehrfach an einen Satz von Willy Brandt: Nichts kommt von selbst.