: 628 Dörfer
■ Augenzeugen des Rußlandfeldzugs berichten
Von Irene DänzerValotti
Viele kennen Witebsk. Witebsk ist die Heimatstadt von Marc Chagall und liegt mitten in Weißrußland, Belorußland. Am 9.Juli 1941, knapp drei Wochen nach ihrem Überfall auf die Sowjetunion, nahm die deutsche Wehrmacht Witebsk ein. In der Stadt lebten damals 180.000 Menschen. Manche hat man auf Chagalls Bildern schon gesehen. Drei Jahre lang besetzten die Deutschen Witebsk und richteten dort fünf Konzentrationslager ein. Am 27.Juni 1944 eroberte die Rote Armee ein Trümmerfeld zurück, in dem 188 Menschen hausten. Alexej Alexejewitsch Besniwez war bei den Befreiern: „Nun, zuerst konnten wir gar nicht in die Stadt hinein, alles war vermint von den Deutschen. Überall Minen. Wir konnten keinen Schritt machen, ohne auf eine Mine zu treten. Die Deutschen wollten beim Abzug auch noch den Rest der Stadt sprengen, die sieben Prozent, die übrig geblieben waren.“ Überlebende berichten. Der Autor und Journalist Paul Kohl hat sie aufgesucht. Im September 1985 ist er durch die Brennschneise der „Heeresgruppe Mitte“ von Brest nach Moskau gereist. Er zitiert AugenzeugInnen, und führt seine LeserInnen damit zu den abscheulichsten Greueltaten. Selbst wenn man weiß, daß der Rußlandfeldzug der „ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg (ist), den die moderne Geschichte kennt“ (so der Faschismus-Forscher Ernst Nolte), ist es doch immer aufs Neue erschütternd, sich vor das geistige Auge zu führen, mit welcher willkürlichen Brutalität deutsche Soldaten und SS-Leute in der Sowjetunion mordeten. In Brest erzählt die Krankenschwester Katschowa Lesnewa über die Belagerung der Festung: „Ich habe selbst erlebt, wie eine Krankenschwester aus unserer Abteilung am Wiesenufer erschossen wurde, weil sie Wasser holen wollte. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wir konnten nicht einmal den Leichnam wegholen. Acht Tage lag sie da im Gras. Und dann, nach einer Woche Belagerung sind die ersten Faschisten in die Festung eingedrungen. Vor unseren Augen haben sie alle Verwundeten, die Kinder, die Frauen, die Soldaten - alle erschossen.“
Das waren die Startschüsse des Rußlandkrieges und so ging er weiter. 628 Dörfer rotteten Wehrmacht und SS aus. Sie wenigstens auf die Landkarte der Erinnerung zurückzuholen, wo Oradour in Frankreich und Lidice in der Tschechoslowakei stehen, ist Paul Kohls Anliegen. Da ist zum Beispiel das Dorf Bajki, etwa 60 Kilometer östlich von Brest. Am 2.Januar 1944 überfiel das Kommando des Feldgendarmeriechefs von Pruschani den Ort, trieb die Menschen in drei Scheunen zusammen, nahm ihnen ihre Wertsachen ab und erschoß sie dann. Der letzte Überlebende des Massakers, Nikolai Stepanowitsch Schabonja, erinnert sich, daß die Männer Gruben ausheben mußten, vor denen sich alle DorfbewohnerInnen aufstellen mußten. „Die Kinder haben sie meistens lebendig in die Grube gestoßen. Mit dem Gewehrkolben. (...) Alles ging so ruhig, ganz ordnungsgemäß. Es war alles straff organisiert. An der Grube wurden die Männer rechts erschossen und die Frauen und Kinder links. So eine Ordnung! Und wenn ein hübsches Mädchen darunter war, führten sie sie in ein Haus daneben. Dort haben sie sie vergewaltigt und dann in dem Haus erschossen.“
In Filmen über diese Taten - vor allem Komm und sieh (DDR: Geh und sieh) von Elem Klimow - sind die deutschen Truppen als aufgebrachte, extatisch tötende Horden gezeigt. Das ist schon schlimm genug, noch furchtbarer aber ist die Vorstellung, daß sie ganz ruhig, eben „ordnungsgemäß“, ihr Tötungsgeschäft erledigt haben. Eine ehemalige Widerstandskämpferin erinnert sich an Szenen in Smolensk: „Ich habe selbst gesehen, wie sie einen jungen Mann aufhängten, nur weil er keinen Ausweis bei sich hatte. Sie haben ihn direkt neben dem Rathaus aufgehängt. Ich habe auch gesehen, wie sie 20, 25 Juden in ein Boot packten, das Boot mitten auf die Dwina schleppten und dann mit Maschinenpistolen darauf schossen. Sie sind natürlich alle ertrunken. Nur ein Mann ist am Leben geblieben: Sascha Muslonik.“
Alle Überlebenden, die in dem Buch zu Wort kommen, mußten 40 Jahre warten, bis ein Deutscher kam.
Paul Kohl beschreibt das alles nüchtern, schnörkellos, meist in kurzen Hauptsätzen. Manchmal stellt er nur Worte nebeneinander. Der Stil ist dem Inhalt angemessen.
Dokumente und ein Aufsatz des Historikers Wolfgang Wette ergänzen die Augenzeugenberichte. Mit dieser Auswahl hat sich Paul Kohl vor dem Vorwurf, übertrieben zu haben, gefeit.
Paul Kohl: Ich wundere mich, daß ich noch lebe. Sowjetische Augenzeugen berichten. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 319 Seiten, 48 DM
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