40 Jahre taz: Die Gründer-Ausgabe: Die bewegte Zeitung
Über ergraute Alt-tazler und eine Leiche im Keller: Zum 40. haben taz-GründerInnen das Blatt übernommen. Wie das so zuging, lesen Sie hier.
Sunny Riedel, vor 40 Jahren noch nicht geboren, heute Nachrichtenredakteurin der taz, tippt seine Worte ab. Dann widerspricht sie: „Das mit Kauder bedeutet vielleicht das Ende für Merkel. Warum sollen wir denn darüber nicht berichten?“ Huth, kurz vor der Rente, Typ Iggy Pop mit Halbglatze, schaut sie kurz an, sagt dann: „Das steht doch schon in allen Zeitungen. Das liest und hört man überall. Dafür braucht es die taz nicht.“
Vor 40 Jahren, am 27. September 1978, erschien die erste Ausgabe der taz. Zum Jubiläum haben die GründerInnen das Blatt übernommen: Die taz vom Donnerstag produzierten 43 Menschen, die schon bei den ersten Ausgaben, den taz-Nullnummern, dabei waren. Manche von ihnen arbeiten bis heute bei der taz. Andere gingen zum Spiegel, zur Zeit oder zum ZDF. Wieder andere sind nicht im Journalismus geblieben, zogen stattdessen in Parlamente ein, haben Galerien eröffnet oder betreiben Cafés. Am Mittwoch sind sie alle noch einmal zusammengekommen.
„Kaffee oder Agenturen?“ ist eine Frage, die sich bereits um kurz nach acht Uhr am Morgen stellt. „Sollen wir den Schlusszeitenplan mit runter ins Café nehmen und erst mal einen Kaffee trinken?“, wünscht sich Michael Sontheimer, einst taz-Chefredakteur, weißes Haar, zwei Halsketten, die in sein Brusthaar hineinhängen, und insgesamt fünf breite silberne Ringe, die sich auf verschiedene Finger verteilen. „Sollen wir vielleicht nicht doch vorher einmal in die Agenturen gucken?“, entgegnet Andreas Rostek, bis 1991 Redaktionsleiter der taz, optisch schlichter und ruhiger, mehr Wolfgang Bosbach.
Vera Gaserow, Meinungsredakteurin
Sein auffälligstes Accessoire: Jack-Russel-Terrier Benji, den Rostek, ungeachtet aller Bürohunddiskussionen in der taz, den ganzen Tag durch die Redaktion trägt. „Och, die Agenturen, ach nö“, kommentiert Sontheimer, heute Spiegel-Redakteuer. Doch Rostek setzt sich durch, die beiden Männer bleiben und beugen sich näher zu ihren Bildschirmen. Die Augen.
Rostek ist einer von denen, die gingen, als die taz zur Genossenschaft wurde. Einer auch von denen, die 27 Jahre später zugeben, dass das die richtige Entscheidung war, dass es die taz ansonsten heute nicht mehr geben würde. „Aber wir hatten eben die großen Blätter der Zeit vor Augen, von denen wir auch eines werden wollten, eine große, lebendige, kräftige Tageszeitung“, sagt Rostek, Benji wie ein volles Tablett auf seinem Unterarm.
Der Ex-Technikchef und der Kampf mit der Technik
Seite 18 muss schon früh fertig werden, Autor Dieter Metk sitzt neben Sunny Riedel. Jede*r Gründer*in hat vorab eine Nanny zugeteilt bekommen, sie sollen ihnen das taz-Redaktionssystem zeigen, beim Austausch mit den Layoutern und der Fotoredaktion helfen. Riedel betreut an diesem Tag gleich mehrere Schützlinge. Sie und Metk müssen seine „technische Reportage“, wie er sie nennt, kürzen. „Jetzt schau mal!“, ruft Riedel und tippt auf die grüne Null auf dem Bildschirm, die zeigt, dass der Text jetzt optimal in seine vorgesehene Form passt. Metk, klein, gestrickter Pulli in Rentnerbeige, strahlt und schiebt seinen Stuhl noch näher an den Schreibtisch. Sontheimer tritt neben ihn, die technische Reportage ausgedruckt auf Papier, mit vielen roten Kringeln und Anmerkungen. „Ach, du hast da auch noch was redigiert?“, fragt Metk. „Ja, sicher“, entgegnet Sontheimer, „sind Petitessen, aber nun ja, trotzdem.“ Metk will die Ausrufezeichen, die Sontheimer aus seinem Text streichen will, behalten.
„Ich mochte die“, sagt Nanny Riedel. „Ja, ich auch“, sagt Metk. „Setze ich mich deshalb jetzt noch mal mit Micha auseinander?“ Riedel lässt ihn ein paar Sekunden überlegen. „Nee, ach nee, lass einfach“, sagt Metk dann und diktiert Riedel die Bildunterschrift zu einem der Fotos, die allesamt Maschinen von damals zeigen. „L, E, T, R, A, S, E, T – Letraset, das war für die Rubbelbuchstaben für die Titelseiten.“
Redaktionskonferenz am Morgen, angepasst an die übliche Zeit, 9.45 Uhr also. „Joar, also früher“, überlegen Peter Huth und Georg Schmitz, Letzterer langjähriger Säzzer bei der taz, danach 18 Jahre in der Aboabteilung. „Die war wohl auch irgendwann vormittags. Hat aber oft gewechselt“, meint Schmitz. Unten dann, im 1. Stock, ist es so voll wie selten an einem Mittwochmorgen in der taz. Viele, natürlich nur Junge, müssen stehen. „Eine kurze Vorstellungsrunde wäre schön“, sagt taz-Chefredakteurin Katrin Gottschalk. „Keine Zeit“, sagen die GründerInnen. Gottschalk übergibt, damit die Alten den Jungen erklären können, wie die Sache früher lief. „Die Einstellung damals war: Was, Bonn? Da gibt es eine Hauptstadt?!“, sagt einer. Der Rest nickt. Und Kuno Kruse, der die taz verließ, weil er seine Familie von dem dürftigen Einheitslohn nicht länger ernähren konnte und zur Zeit, zum Spiegel und zum Stern ging, sagt: „Wir hätten damals, als wir die Nullnummern gemacht haben, nicht mal gewusst, wer Kauder ist“, und wieder nicken und lachen alle. Damit wandert der Auftrag an Peter Huth: Er wird auf Seite 20 verkünden, dass über Kauder nichts in der Zeitung steht.
Wer fährt den silbernen Mercedes?
Und dann passiert’s: Es sind Worte, neun an der Zahl, die heute wie damals wohl niemand in der taz erwartet hätte: „Wem gehört der silberne Mercedes unten in der Einfahrt?“ Der werde gleich abgeschleppt. Erschütterung. „Der kann gleich nach Hause gehen!“, ruft einer. „Nicht meiner“, sagt Peter und lacht, wie Männer es oft machen: auf den Tisch hauen, im Raum umherblicken, um die Reaktionen einzufangen, sich tiefer in den Stuhl schieben und die Beine unter dem Tisch zusammenschlagen. Einige gehen raus, begleitet von Rufen und ausgestreckten Zeigefingern.
Sontheimer reicht einen Stapel Papier nach links weiter: „Ich verteile euch mal den Schlusszeitenplan, auf dem steht, wann die einzelnen Ressorts fertig sein müssen – angeblich“, schiebt er noch hinterher. Die aktuellen tazlerInnen werfen einander besorgte Blicke zu, und sie registrieren auch, dass sich niemand meldet, um etwas zu sagen, und dass Männer Sachen sagen wie: „Jetzt red einfach weiter, Ute, komm.“
Auf Seite 1, unter dem historischen taz-Schriftzug von 1978, soll eine Titelgeschichte über den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdoğan entstehen. Auf Seite 4 und 5 berichten drei taz-Gründer über die Anfänge der Zeitung. Auf der 13 dürfen AbonnentInnen der ersten Stunde LeserInnenbriefe schreiben. Und auf Seite 17 kommt das große Doppelinterview mit Martin Schulz und Daniel Cohn-Bendit – das, anders als die vielen anderen vorgeplanten Texte, noch nicht fertig ist. Mehrere Redaktionskonferenzen hat es in den vergangenen Wochen gegeben, Texte und Themen wurden vorab geplant, entschieden, dass die Ressorts, so wie früher, wieder vollständig autonom arbeiten und dass Ressorts, die es schon lange nicht mehr gibt, heute noch einmal auferstehen. Auf den Seiten 8 und 9 etwa, die sonst zum Wirtschafts- und Umweltressort gehören, schreiben Autoren unter dem Banner „Betrieb & Gewerkschaft“ darüber, dass die Gewerkschaftsoppositionellen von damals jetzt die Chefs sind.
Die Leiche im Keller
Dann wieder Sontheimer: „Wir haben schon eine Leiche im Keller, über die wir jetzt noch mal sprechen müssen.“ „Nur eine?“, fragt eine Frau. Da sei dieser Text, der anfangs als Editorial geplant war, der nun aber wohl gar nicht im Blatt erscheinen wird, weil er von der großen Mehrheit als AfD-nah klassifiziert worden war. Man habe deshalb entschieden, den Text nur online zu stellen. „Uns muss aber schon klar sein, dass es eine Entscheidung ist, Leute, die eine andere Meinung vertreten als die Mehrheit, nicht im Blatt vorkommen zu lassen“, sagt Sontheimer. Die beiden Autoren des Textes sind an diesem Tag nicht anwesend, einer von ihnen sei damals „aus der schwer linksradikalen Szene gekommen“. „Damals wollte er noch, dass wir einen Schwur auf die RAF abgeben“, erinnert sich Kuno Kruse. Alle sind sich einig: Als Editorial ins Blatt kann der Text keinesfalls, höchstens als Debattenbeitrag auf taz.de. Verena Schneider, 38, aktuelle Onlineredakteurin, aber mahnt: „Online ist keine Resterampe für Texte, die keinen Platz in der Zeitung finden. Darüber müssen wir gleich schon noch mal sprechen.“ Die GründerInnen entschuldigen sich, die Entscheidung wird verschoben. Alte und Junge brechen auf in die Produktion.
Ziemlich für sich allein im dritten Stock sitzt Gitti Hentschel. Nur sie betreut die beiden Frauenseiten in der Gründer-taz, die nicht GründerInnentaz heißt, weil ein paar Männer das schon am frühen Morgen so entschieden haben. Sie war es auch, die in der morgendlichen Konferenz an die Studie zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche erinnert hatte – und die jetzt darüber schreibt.
Hentschel schiebt ihre Beine auf den kniehohen Schrank unter dem Schreibtisch und lehnt sich zurück. Ihr Kommentar, sagt sie und zeigt auf das zur Hälfte beschriebene Word-Dokument auf dem Bildschirm, solle in den Tagen, in denen Bill Cosby ins Gefängnis muss, noch einmal zeigen: „Die Kirche kann machen, was sie will. Sie braucht keine Staatsanwaltschaft zu fürchten.“
Sie schreibe diese Zeilen jetzt gern, klar, aber „mich ärgert das auch. Dass ich diesen Kommentar verfasse und die beiden Frauenseiten betreue, ist kein Zufall.“ Viele Männer hätten auch vor 40 Jahren den Frauenthemen wenig Beachtung geschenkt und sie als Autorin für ungeeignet gehalten. Dabei war Gitti Hentschel eine von wenigen, die damals überhaupt schon journalistische Erfahrung besaß.
Erinnerungen an zermürbende Kämpfe
„Wir Frauen fühlten uns stark und emanzipiert. Und gleichzeitig wollten wir von den Männern anerkannt werden. Das war ein alltäglicher zermürbender Kampf.“ Sobald andere Zeitungen wie die Emma oder die Courage etwas im Blatt hatten, das den taz-Frauen entgangen war, bekamen sie den Druck der Kollegen zu spüren. Dennoch, die Zeit der taz-Gründung sei für sie als Frau „aufregend“ gewesen, ein Wahnsinn, wie sie in ihren „schrottigen R4s mit 100 Stundenkilometern“ gefahren seien, um die Zeitungen zur Flughafenfracht zu bringen.
„Und erotisch aufgeladen war es auch“, sagt Gitti, „viele Frauen und Männer hatten damals Beziehungen miteinander, andere waren befreundet.“
Irgendwann aber hatte sie von den Frauenseiten „die Schnauze voll“, Gitti wechselte ins Aktuelle, später dann schrieb sie zahlreiche Gerichtsreportagen. „Wenn ich über Vergewaltigungsprozesse geschrieben habe, musste ich mir fast immer Kritik anhören. Es hieß dann, ich werde zu emotional, zu persönlich.“ Hentschel schüttelt die kurzen rotblonden Haare.
Und heute? „Erst gestern habe ich alle wieder darauf hinweisen müssen, dass auf den ersten fünf Seiten unserer Ausgabe nur Männer über Männer schreiben“, sagt Hentschel. Abgesehen vom Editorial auf Seite 2. Das stammt von Vera Gaserow, bis 1991 im taz-Inlandsressort, danach bei der Zeit und der Frankfurter Rundschau.
„Was uns jetzt noch einmal in der taz zusammengebracht hat, ist ein prägendes Stück Vergangenheit sowie die Lust und die Verantwortung, uns weiterhin einzumischen“, schreibt sie. „Und nicht zuletzt ist es der Stolz, gemeinsam ein Projekt auf die Beine gestellt zu haben, das sich als unschlagbare Überlebenskünstlerin erwiesen hat: die taz.“ Gerade sitzt Gaserow gemeinsam mit Kuno Kurse im Meinungsressort im 3. Stock und redigiert. Früher, als sie die Texte noch an der Schreibmaschine getippt haben, reichten sie sie zum Redigieren einfach dem Sitznachbarn, stritten dann auch mit dem darüber. Jetzt sei es natürlich wesentlich einfacher, Fehler direkt im Dokument korrigieren zu können, sagt Vera Gaserow, einen Text besser mache das aber noch lange nicht. Vielsagend widmet sie sich wieder dem Computer.
Die Titelkonferenz und die zwei Erdogans
13.30 Uhr, Titelseitenkonferenz, zwei Erdoğan-Karikaturen stehen zur Auswahl. Eine zeigt den türkischen Präsidenten als Bulldogge mit Hodensack als Kinn. Die andere präsentiert ihn als zwielichtig dreinblickenden Strippenzieher auf einem Königsthron. „Ich bin ganz klar für die rechte“, sagt Kuno Kruse und zeigt auf die mit dem Königsstuhl. „Es geht nicht um seine Hässlichkeit, sondern um seine Macht.“ „So hässlich ist er ja auch gar nicht“, murmelt jemand. Gaserow pflichtet ihm bei: „Die erste macht ihn zur Bestie, das sollten wir mit Menschen grundsätzlich nicht machen.“ Als Einziger klar für die erste Variante ist Rostek: „Ihr seid zu vorsichtig. So wird das nie was mit dieser Zeitung.“
Dann wollen die GründerInnen auch noch eine bezahlte Anzeige von der Titelseite schmeißen. „Früher haben wir uns immer über Anzeigen hinweggesetzt“, sagt Kruse. – „Kuno, du wolltest doch später essen gehen!“ – „Mir egal, dann gehen wir Pommes essen!“ Die Anzeige bleibt.
Unterdessen ist das Schulz/Cohn-Bendit-Interview noch immer nicht fertig. Die Interviewer Max Thomas Mehr und Hannes Winter haben es erst am Dienstagabend geführt. Dann hat alles etwas länger gedauert: Bis Mitternacht tippte Mehr das Band ab, am Morgen hatte er 15 Seiten vor sich, die er bis zum Mittag auf eine zusammenkürzte. Die fertige Version musste dann noch zu Schulz und Cohn-Bendit zur Autorisierung. „Ach was, Autorisierungen haben wir früher auch nicht gemacht“, hatte Michael Sontheimer noch am Morgen verkündet. 1978 hätten sie sich um solche Regeln nicht geschert, aber „heute ist das nun mal selbstverständlich. Macht Micha beim Spiegel sicherlich auch so“, sagt Mehr, als er viele Stunden später im 4. Stock sitzt und versucht, den Untertitel auf Zeile zu bringen. Um halb drei hätte die Seite in der Druckerei sein müssen, jetzt ist es schon nach vier. Peter Huth sagt: „Früher haben wir uns einen Joint gedreht, wenn eine Seite nicht fertig wurde. Hat uns beruhigt.“
Auch das Berlinressort baut noch hektisch an einer Überschrift. Die langjährige Lokalredakteurin Sabine Porn hatte für die Lokalseiten die Söhne zweier ehemaliger taz-Redakteure interviewt, von denen einer verstorben, ein anderer, Benedict Maria Mülder, schwer krank und trotzdem im Rollstuhl zur Übernahme erschienen ist. „Er war häufig auf Achse“, erinnert sich Mülders Sohn Jim an die aktive Zeit seines Vaters: „Leben, sozusagen am Puls der Zeit. Das war hochinteressant für mich.“
„Das war zu entspannt“
Um 16.30 Uhr bringt Andreas Rostek seinen Hund Benji nach Hause, um 17 Uhr sind die Seiten raus, alle, sogar die mit dem Schulz/Cohn-Bendit-Interview. Das Thema Kauder blieb klein in den Nachrichten, die GründerInnen haben richtig entschieden. Die aktuellen Redakteure wissen, sie hätten es ganz anders gemacht – und dieses Mal danebengelegen. Es wirkt gar ein bisschen, als hätten die Nachrichten für den taz-Geburtstag eine Pause eingelegt.
Beim Abschlusssekt wirken einige enttäuscht. „Das war zu entspannt“, sagt Sontheimer, „es gab überhaupt kein Drama.“ „Sogar Max ist noch fertig geworden“, fügt Peter Huth hinzu. Nur die Technik, die hätten sie ohne ihre Nannys nicht gemeistert. Die seien so viel professioneller als sie damals, disziplinierter. Die GründerInnen waren Teile von Bewegungen, die tazlerInnen heute sind Journalisten. Einer dieser taz-Redakteure, Jahrgang 1985, sieht das mit dem Stress etwas anders: „Jetzt brauche ich eine Woche Urlaub.“
Und was dann, zum Schluss, doch noch alle beruhigte: Der silberne Mercedes gehörte einem Cafégast und niemandem von der taz.
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