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„1998 können wir Wirschaftswachstum vergessen“

■ Auch die besten Absichten Jelzins und seiner Getreuen können nicht verhindern, daß ihr Vorgehen die ohnehin schwache Produktionsfreude der russischen Unternehmen weiter lähmt

Noch am letzten Wochenende hatte sich in Rußland die Meinung durchgesetzt, Präsident Boris Jelzin leide nicht nur an einer einfachen Erkältung, sondern an einer Lungenentzündung. Aus Insider- Kreisen verlautete, die Krankheit des Präsidenten sei wohl „nach unten gerutscht“. Eher Erheiterung als Trost spendete auch die Erzählung des Künstlerehepaaars Wjatscheslaw Rostropowitsch und Galina Wischnjewskaja, die Jelzin besucht hatten, ihn in guter Form fanden und berichteten, Ehefrau Naina kuriere ihn mit heißem Bier. Sogar Regierungspressesprecher Sergej Jastrschembski gab klein bei. Sonst Meister in der Kunst, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, bezeichnete er „die Gesundheit des Präsidenten“ als wahren Grund für die Verlegung von Jelzins bevorstehendem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten Jaques Chirac von Jekaterinburg nach Moskau.

Daß der russische Präsident gestern wie der Phönix aus der Asche wiederauferstand und wie ein donnernder Wotan die Regierung von der Bühne fegte, ist jedoch für langjährige Beobachter seines politischen Wandelns nichts Ungewöhnliches. Die phänomenale Regenerationsfähigkeit Boris Nikolajewitschs ist ebenso bekannt wie seine Art und Weise, das Land mit radikalen Entschlüssen zu überraschen, sobald sich Rußlands Dauerkrise wieder einmal zuspitzt.

Eine andere Frage ist die nach der Zuträglichkeit dieses Regierungsstils für die demokratische Entwicklung des Landes. Der Führer der liberalen Jabloko-Fraktion im Parlament, Grigori Jawlinski, schilderte dieses Problem letzte Woche in einem Interview sehr konkret: „Er fällt alle Beschlüsse selbst. Und Sie können allen, die ihn für nicht handlungsfähig halten, ruhig ausrichten, daß sie sich noch auf seiner Beerdigung erkälten werden. Er kann die Menschen in die eine Richtung dirigieren und wenn er es morgen will, genau in die entgegengesetzte. Ich werde Präsident, also alle zu mir her! Ich sage: Der da wird es, also lauft alle zu ihm hin! Ich sage, ein anderer wird es, also, husch, alle hin zu dem! Weil ich nämlich der Präsident bin, und ihr anderen seid alle bloß Insekten. Man muß das verstehen, weil schon seine formalen Machtbefugnisse schier grenzenlos sind. Aber so etwas wie eine Civil Society, eine Gesellschaft, die sich selbst organisiert, die die Macht ganz selbstverständlich einschränkt, so etwas existiert in Rußland dabei nicht.“

Die Aktienkurse an der Moskauer Börse hatten auf den Schock des plötzlichen Regierungssturzes gestern früh mit freiem Fall reagiert, gen Mittag hin erholten sie sich allerdings ein wenig. Vorausgegangen war die Versicherung des Präsidentenberaters Alexander Lifschitz, daß sich am Reform- und Wirtschaftskurs der bisherigen Regierung auch unter einem neuen Kabinett nichts ändern werde.

Aber auch die besten Absichten Jelzins und seiner Umgebung können nicht verhindern, daß ihr Vorgehen die ohnehin schwache Produktionsfreude der russischen Unternehmen weiter lähmt und „Handel und Wandel im Lande bremst“. „Im Jahre 1998 können wir Wirtschaftswachstum vergessen“, darin waren sich gestern Sprecher der verschiedensten Duma- Fraktionen einig. Anstatt sich für konkrete Verbesserungen einzusetzen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung, würden nun alle Politiker voll im Regierungsbildungsspiel aufgehen. Falls es danach zu einer relativ ruhigen Phase käme, könne diese nur noch von kurzer Dauer sein. Denn, so bemerkte ein Parlamentarier, „1999 müssen wir uns schon auf die Duma-Wahlen einstellen, mit allen Folgen, die sich daraus ergeben“.

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