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100.000 Mark für Rücktritt

Die SPD fordert nicht mehr die Macht in Berlin. Spitzenkandidatin Stahmer spottet über die Bonner Genossen. Die Partei kämpft gegen sich selbst  ■ Von Dirk Wildt

Eigentlich will Ingrid Stahmer in zweieinhalb Wochen die Berliner Wahlen gewinnen und Regierende Bürgermeisterin werden. Eigentlich. Denn von ihrem Wahlziel, die Sozialdemokraten wieder zur stärksten Kraft in Berlin zu machen, ist die Spitzenkandidatin der SPD inzwischen abgerückt. „In der jetzigen Situation“ sei es schon ein Erfolg, wenn man nicht unter 30,5 Prozent rutsche, sagt sie. 30,5 Prozent, das war das schlechteste Ergebnis, das Sozialdemokraten jemals in Berlin einfuhren – 1990, nachdem die unter Walter Momper geführte rot- grüne Koalition geplatzt war.

Wahlumfragen sehen die SPD noch zwischen 30 und 32 Prozent, die CDU bei etwa 38 Prozent, die Bündnisgrünen bei 15, die PDS zwischen 12 und 13 Prozent. Die FDP muß nach ihren Einschätzungen draußen bleiben. Doch nach dem Diätenvorstoß auch der SPD- Bundestagsmitglieder und dem Rücktritt Verheugens von seinem Amt als Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion munkeln Berliner Sozialdemokraten, daß die SPD statt jeder dritten nur noch jede vierte Wählerstimme gewinnen könne. Dann komme die Oppositionsrolle, mutmaßt ein Politstratege.

Die Spitzenkandidatin, Sozialsenatorin Stahmer, ist nicht ganz so pessimistisch, obwohl auch sie „ein Tieferrutschen“ befürchtet. Die Stimmung bei Basis und Bürgern liegt bereits unter dem Gefrierpunkt – der Wahlkampf für die Kandidatin gleicht nur noch einem Spießrutenlauf. Auf sie würden „reinste Hagelschauer“ niederprasseln, wenn sie auf der Straße Broschüren verteile, sagt Stahmer. Die Leute seien „besonders durch den Diätenstreit“ verbittert und würden nicht zwischen Landes- und Bundespartei unterscheiden. Der Rücktritt Verheugens spiele da „nur eine nebensächliche Rolle“. Da die Personalkrise in der Bundespartei den Berlinern schade, wünscht sich Stahmer voller Sarkasmus, daß die Bonner für jeden kommenden Rücktritt 100.000 Mark zusätzlich in die Berliner Wahlkampfkasse zahlen.

Die aber sind auf ihre Berliner Kandidatin gar nicht gut zu sprechen, weil sie die Diätenerhöhung ablehnt. Nahezu alle seine Kollegen seien verstimmt, weiß Bundestagsmitglied und Berlins Ex-Senator Thomas Krüger. Ingrid Stahmer bestätigt, von fast allen Fraktionsmitgliedern „bitterböse Briefe“ und wütende Anrufe bekommen zu haben. Am kommenden Samstag wollen die Sozis allerdings Eintracht üben. Dann werden sich Scharping sowie die Ministerpräsidenten aus Niedersachsen und dem Saarland, Schröder und Lafontaine, auf dem Berliner Alexanderplatz Mühe geben, vor dem Volk harmonisch zu wirken.

Vorher feiert die Partei ihre Neugründung von 1945. Das Motto „Eine große Idee prägt die Geschichte, gestaltet die Gegenwart und entwirft die Zukunft“ ist unter Parteimitgliedern nur noch Anlaß für Spott und Hohn. „Wenn das mal keine Beerdigung wird“, lästerte eine Wahlkampfhelferin am vergangenen Wochenende, als vierhundert Frauen mit Ingrid Stahmer den 60 Meter hohen Kreuzberg erklommen.

Stahmer war nicht nur angetreten, um die SPD wieder stark zu machen, sondern auch um den Dialog mit dem Bürger zu verbessern. Insider stellen fest, daß auch dieses Vorhaben danebengegangen ist. Ob im Diätenstreit oder bei Fragen verlängerter Ladenöffnungszeiten oder der Abschaffung sogenannter Strafrenten bei Stasi- belasteten DDR-Bürgern, immer kämpfe die SPD gegen sich selbst statt gegen die CDU. Und schon macht der Witz die Runde, daß vier Sozialdemokraten an einem Tisch ein größeres Meinungsspektrum wiedergeben als Vertreter von vier verschiedenen Parteien. Statt Profil zu gewinnen, nivellieren Berliner wie Bonner SPD ihre Positionen, könne niemand mehr erkennen, wofür die Partei stehe.

In Berlin sind die Optimisten selten geworden. Einer ist Helmut Fechner von der Spitze der Abgeordnetenhausfraktion und Kreisvorsitzender im Ostberliner Bezirk Treptow. Sein Ziel sei weiterhin, die SPD zur stärksten Kraft zu machen und „daß der nächste Regierende eine Frau werde“. Nachdem die Bonner Parteispitze vergessen hätte, daß in Berlin Wahlen seien, hätten Rücktritte keine „besondere Wirkung“ mehr.

In einem anderen Ostbezirk haben die Jungsozialisten den Wahlkampf bereits beendet. Thomas Krüger, Bundestagsabgeordneter und Lichtenberger Kreisvorsitzender, sagt, die Jusos würden angesichts der aussichtslosen Situation keine Flugblätter mehr drucken. Statt dessen streichen sie lieber ein Klassenzimmer einer Körperbehindertenschule. „Wahlkampf?“ sagt Thomas Krüger, „der läuft doch nicht mehr.“

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