1. Mai in Berlin: Schutz vor Kapitalismus-Virus
Protest will sich Berlins linksradikale Szene am 1. Mai nicht verbieten lassen. Schließlich zeigten sich die Fehler des Systems jetzt mehr denn je.
Von „Same procedure as every year“ kann dennoch keine Rede sein. Anders als etwa die Verschwörungsideologen, die seit vier Wochen am Rosa-Luxemburg-Platz demonstrieren, nehmen die Linken die Bedrohung durch das Coronavirus ernst und arbeiten an Konzepten, um die Ansteckungsgefahr gering zu halten. „Wir wollen unsere Aktionen so gut es geht sicher gestalten, um uns und andere zu schützen“, schreibt etwa das Revolutionäre 1. Mai-Bündnis. Wie genau sie sich das vorstellen, wollen die Autonomen auf einer Pressekonferenz am Montag präsentieren.
In ihrem Aufruf ist von „dezentralen Aktionen“ die Rede. So soll etwa der Protest „zu den Verantwortlichen für die Abschottung gegen Geflüchtete, zu den AkteurInnen von Verdrängung und Zwangsräumung und zu den ProfiteurInnen von kapitalistischer Ausbeutung“ getragen werden.
Dass man dabei womöglich nicht ganz auf größere Ansammlungen verzichten will, hat ein Sprecher der zum Vorbereitungskreis gehörenden Gruppe Radikale Linke Berlin in einem Interview mit dem Neuen Deutschland angedeutet: „Also mit Masse wird es irgendwas sein, Demonstration ist eher unwahrscheinlich.“ Auch dabei gelte, „auf Abstand und alles Weitere“ solle geachtet werden.
Geheimdemo im Wedding
Ganz klassisch demonstrieren will die Initiative „Hände weg vom Wedding“. Aufgrund der bis einschließlich 3. Mai weiterhin geltenden Pflicht, Demonstrationen mit maximal 20 Teilnehmenden zu beantragen, tut die Gruppe jedoch genau das. „Wir haben der Versammlungsbehörde ein konkretes Konzept vorgelegt, die Gespräche laufen“, sagt Julian Löffler für die Weddinger AktivistInnen, die seit 2012 die antikapitalistische Demo organisieren. Der Startpunkt der Demonstration soll nicht vorab bekannt gegeben werden, um keine weiteren TeilnehmerInnen anzuziehen. „Das ist eine paradoxe Situation, da wir normalerweise ja versuchen, möglichst viele Menschen anzuziehen“, so Löffler.
Eine Absage kam für die AktivistInnen aber nicht infrage. Löffler spricht von einem „unglaublichen Raum für politische Forderungen“, der sich in dieser Zeit auftue: „Ganz viele Fehler im kapitalistischen System zeigen sich jetzt deutlicher als je.“ Dabei gehe es noch nicht einmal um neue Themen, denn auch schon vor der Pandemie habe die Gruppe etwa gegen Ausgliederungen bei der Charité und Zwangsräumungen protestiert oder sich in Lohn- oder feministische Kämpfe eingemischt. In all diesen Bereichen steige nun durch die Krise die Spannung, so Löffler.
Der Aufruf zur 18-Uhr-Demo thematisiert darüber hinaus, dass die Corona-Krise nicht alle gleich betreffe, sondern „insbesondere Geflüchtete, Obdachlose und Gefangene“ unter den Bedingungen leiden müssten. Auch Frauen laufen durch Ausgangsbeschränkungen vermehrt Gefahr, Opfer „patriarchaler Gewalt“ zu werden. Zentral für die Szene wird zudem die Verteidigung des queerfeministischen Hausprojekts Liebigstraße 34 sein, über dessen Räumung am 4. Juni final entschieden wird.
Grunewald nicht allein lassen
Der sozialen Frage und der sich durch Corona noch weiter verschärfenden ungleichen Vermögensverteilung will sich das in Quarantänemanagement Grunewald umbenannte hedonistische Bündnis kümmern. „Wir können in so schweren Zeiten die Grunewalder nicht im Stich lassen“, sagt Sprecherin Elenos Schickhäuser-Gosse.
Mittels eines Autokorsos von Neukölln nach Grunewald strebe man einen „infektionssicheren Hausbesuch“ im Villenviertel an. Über eine Genehmigung werde mit der Versammlungsbehörde verhandelt. „Der Korso ist auch ein Schutz für uns, um nicht mit der Polizei als Superspreader in Berührung zu kommen“, so Schickhäuser-Gosse.
Angemeldet ist auch eine stationäre Kundgebung im Grunewald, die jedoch ebenfalls 20 Teilnehmende nicht übersteigen darf. Das Quarantänemanagement plant deswegen einen Livestream seiner Aktionen und wird in einem „Hauptstadtstudio“ auch zu anderen Schauplätzen, Rede- und Kulturbeiträgen schalten.
Laut einem internen Lagebericht des LKA, den der Spiegel veröffentlichte, rechnet die Polizei mit Krawallen. Zu erwarten seien etwa spontane Flashmobs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“