Muss der Grand Prix sein?

nein
Gute Musik? Vergessen Sie es! Der Grand Prix Eurovision ist der akustische Flugversuch mit einem absturzgefährdeten Musikballast-Cargolifter. Er taugt vielleicht nur noch als eine Art Gewerkschaftstreffen der wenig Bemittelten im Schlagergeschäft.

Eine Fluggesellschaft macht zurzeit folgendermaßen für sich Werbung: Mit uns fliegen, das ist, wie „wenn man mit Madonna einschläft und mit Kylie Minogue aufwacht …“ Grand Prix hingegen ist wie Einschlafen mit einer Kräuterhexe und Aufwachen mit einer Kotztüte im Arm (die zu allem Überfluss auch noch ein großes Loch hat). Der Grand Prix, diese verunglückte, seit Jahren wiederkehrende Suche nach einem Superstar, der keiner ist, bereitet mir inzwischen derart massive Übelkeit, dass ich selbst bei Bestleistungen während des musikalischen Höhenflugs über die europäischen Landen nicht mehr abheben kann. Manchmal ist „Ein bisschen Musik“ eben nicht genug. Vielleicht gerate ich deshalb jedes Mal beim Grand Prix in eine akustische Warteschleife.

Mal Hand aufs Herz: Ist Ihnen bei diesen akustischen Flugversuchen mit einem der absturzgefährdeten Musikballast-Cargolifter nie schlecht geworden? Der lahmen Musik, die immer klingt, als habe man Ralph Siegel lange vor der Fertigstellung das Blatt aus der Hand gerissen (Achtung: Hier wird ein Blatt benotet!), die stets unfertig und wie nebensächlich erscheint, ein Prototyp ohne Chance auf Serienproduktion. Nur der große Showmotor des Fernsehens hilft dieser lahmen Ente in die Luft. Und ist nicht genau das mit Euro-Vision gemeint: Um überhaupt weiter hören zu können, muss man so viel zu sehen glauben, dass einem das Hören vergeht, ohne dass man es merkt?

Grand Prix ist wie eine Operation, die man am offenen Gehirn vornimmt, um einen alten akustische Lappen zu entfernen, den man dann allerdings wieder liegen lässt und erneut einnäht. Überhaupt bemüht man sich um saubere Schnitte und korrekte Betäubung mit richtigen Ohrwürmern genauso wenig wie um korrekte Geografie. Wie sonst ist zu erklären, dass die Türkei und Israel zu Europa gehören? Europa verflüssigt sich in der Schlagersonne ebenso wie der Begriff „gute Musik“, für den der Grand Prix steht – ein Begriff, so dehnbar, dass ein Kaugummi dagegen geradezu ein kompositorischer Härtefall ist.

Meine Tochter beispielsweise findet, dass es beim Grand Prix nur schlechte Musik gibt. Warum? Schlechte Musik, erklärt sie, das bedeutet u. a. Musik, die keine Zielgruppe hat außer den Alten, sagt sie. Auf meinen ängstlichen Blick hin meinte sie: Nein, noch älter als du. Die so etwas machen, die sind richtig alt. Selbst Meister Guildo Horn, der Advocatus Pisa Diabolis und für viele ein Verjüngerer, hat also versagt. Vermutlich wird das Spannendste in diesem Jahre also wieder der Kampf der musikalischen Achsenländer sein: Deutschland (warum singen Libyen und Kuba eigentlich nicht für das alte Europa mit?) und andere musikalische Schurken gegen die Guten, also Great Britain und Spanien. Vielleicht gibt Frankreich jetzt L’Allemagne mal ganze douze points!

Vielleicht ist der Grand Prix aber auch nur so eine Art letzter Aufschrei, ein finaler Warnstreik des Geschmacks, durch den wir uns bewusst werden, dass es tatsächlich viele wenig Bemittelte im Schlagerbereich gibt, Menschen, die endlich ein Bündnis der musikalischen Arbeit brauchen. Der Grand Prix wäre dann eine Art Gewerkschaftstreffen der nationalen Musik. Die Arbeitgeberverbände der Phonoindustrie streiten das natürlich ab. Sie wollen die E-Vision! Ist der Grand Prix am Ende also nur ein gelungener Trick, uns nach der Show Geld aus ebenjener Tasche zu leiern, die Topsänger Elmar Brandt dem Kanzler verweigert, damit wir sie ihm selber durch den Kauf seiner Produkte füllen? Was, bitte, soll ich davon halten, dass Elmar Brandt panikartig in der Bild bekennt, er könne womöglich nicht mehr auftreten, nur weil seine Gummipuppe beim Dreh für ein neues Video verschmort ist? Singt am Ende gar die Puppe? Ist Brandt ein Zombie? Kann er überhaupt singen? Aber dann: Warum sollte er überhaupt? Er würde nur aus dem Rahmen fallen.

„Da haben wir’s“, werden Sie vielleicht jetzt sagen. Diese Intellektuellen, die knallen am Ende eben doch immer nur den Adorno auf den Tisch und übertragen einfach all diese üblen Stellen über Jazz, feige wie sie sind (Intellektuelle sind feige, weil sie immer Belege und Zitate brauchen, statt einmal selbst zu denken), blindlings auf den „Schlager“. Wie ungerecht! Denn Jazz war immerhin eine Musik von gewisser Komplexität, Stimmung und Einfallsreichtum, die mehr als drei, ach, sagen wir großzügig, vier Akkorde plus einen verminderten Mollakkord kennt.

In Kiel hätten die Beatles nie eine Chance gehabt. Richard Wagner, einer der älteren, heute weniger bekannten Musiker, der mal ein längeres Musikstück namens „Tannhäuser“ über so einen Sängerwettbewerb schrieb, textete folgende Zeile: „Als ich erwacht, / da ekelt mich der holde Sang! – / von der Verheißung lügnerischem Klang, / der eiskalt mir durch die Seele schnitt, / trieb Grausen mich hinweg mit wildem Schritt.“

GERT SCOBEL

ja
Keine Angst vor dem Mainstream! Keine Angst vor der Masse! Linke Kulturkritik perlt am Grand Prix Eurovision einfach nur ab. Denn Europa will unterhalten werden. Und keine Show entspricht diesem Wunsch besser als der Grand Prix.

Es ist ja wahr: Allen, denen an geschmacklicher Erziehung liegt, ist der Grand Prix Eurovision ein Gräuel. Aber nicht nur diese Show, überhaupt alle Veranstaltungen, die mehr als Vereinstreffen jeweiliger Milieus sind (in Punkkneipen, Salsaschuppen oder auf dem Bayreuther Hügel), sind ihnen nicht geheuer, weil sie, so sagen diese Leute, nur den „Mainstream“, nur die „Masse“ bedienen. Masse ist doof, weil man aufs Individuelle hält, das steht für jene Kritiker fest, seit sie ein schulisches Reifezeugnis haben. Mainstream ist noch doofer, weil dieser Begriff so klar kenntlich macht, worauf es nicht ankommt, ginge es nach den Freunden der guten ästhetischen Kinderstube: bloß nicht dazugehören, sich fern halten, dem Pöbel keinen Fußbreit des eigenen Territoriums überlassen.

An diesem Verhältnis zur Unterhaltungsfrage ist viel Gelogenes zu benennen: Laut allen Untersuchungen von Medienforschern werden die Krawallshows der privaten TV-Kanäle von Leuten mit höherem Bildungsgrad bevorzugt. Birte Karalus meets Keith Jarrett: Das ist die Wahrheit. Und: „Wetten, dass …?“, der Grand Prix oder, der Paradefall der Massenunterhaltung, „Ran“ mögen proll sein, geguckt werden sie von einem Querschnitt der Bevölkerung – Abitur, Realschule und Sonderschule, alles inklusive.

Die klassische linke Argumentation gegen Millionenunterhaltung wird ja heutzutage nicht mehr so offen geäußert. Die Rede war dann von Verblendungszusammenhang und Manipulation, also insgesamt vom Verdacht, dass die Masse eigentlich nicht weiß, was sie tut, und wenn, dann nicht, dass es so schlecht ist. Die Floskel von den falschen Sendungen im wahren Medium, um den Kronzeugen dieser Kulturkritik, Herrn Adorno, zu paraphrasieren, war falsch und wird es immer sein: Inzwischen ist auch die Unterhaltungsware Fußball geadelt. Denn Verblendungszusammenhang hin, Manipulation her: Irgendwie wollte man ja doch wissen, wie die eigene Mannschaft gespielt hat.

Und was den Grand Prix Eurovision anbetrifft, verhält es sich doch so: Jahr für Jahr entscheiden sich gut 100 Millionen Europäer einmal im Jahr dafür, ebendiese Sendung zu gucken. Sie würden komplexere ästhetische Performances, bessere Musik und angenehmere Stimmen wählen – wenn sie denn wollten. Aber sie tun es nicht. Jahr für Jahr entscheiden sie sich für einen Titel, der ihnen unabhängig von musikwissenschaftlichen Erwägungen gefällt. Das einzige Ziel dieser Veranstaltung ist, einen Sieger hervorzubringen – und Favoritenstürze, nationale Schanden und private Wettniederlagen. Es ist immer das gleiche Spiel, gerade für Länder, die von der Grand-Prix-Sonne nie recht beschienen wurden. Finnland etwa träumt seit Anfang der Sechzigerjahre davon, einmal diese Trophäe zu gewinnen. Und wurde doch irgendwie immer das Allerletzte.

Den Deutschen ging es nur selten besser, außer bei Nicole, die mit ihrem „Ein bisschen Frieden“ die heutige Friedensbewegung aufs antizipatorischste besang: Jahrelang hat das Land der Dichter und Denker probiert, mit elaborierteren Musikentwürfen den Grand Prix Eurovision zu gewinnen – und scheiterte am Unterhaltungsbedürfnis der Europäer, denen der Sinn nicht nach Komplexität, Filigranität und Pädagogik stand, sondern nach Pop.

Kurzum: Europa wartet nicht auf bessere Musik, sondern auf Herzensströme, gegossen in Musik. Wenn diese Musik besser ist als andere – gut so. Ansonsten ist der Grand Prix Eurovision ein verkapptes Sportereignis: Man weiß am Anfang nicht, wie es endet – was auch erklärt, weshalb die legendäre Punkteauswertung extreme Marktanteile bei allen TV-Anstalten hat.

Ob die Beatles jemals den Grand Prix gewonnen hätten? Sicher nicht mit „The Long And Winding Road“. Zu kompliziert. Aber John Lennon gewiss: „Imagine“ ist der beste Friedensschlager, den Nicole nie gesungen hat. Leider hat sich Lennon nie getraut. „Imagine“ eint, das ist das Geheimnis dieses Songs, alle Generationen und alle Milieus. Der kleinste gemeinsame Nenner Europas quasi. So wie „Puppet on a String“ von Sandie Shaw oder „Fly on the Wings of Love“ der Olsen Brothers oder „Waterloo“ von Abba. Tonspuren in der Alltagsgeschichte Europas.

Europa liebt dieses Spiel mit schlechten Kostümen und überraschenden Triumphen, diese Chance auf ewigen Ruhm, der in drei Stunden errungen werden kann. Der Grand Prix ist die einzige Show, die im „alten Europa“ überhaupt übernational funktioniert. Es war das Projekt, bei dem die osteuropäischen Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unbedingt mitmachen wollten. Es ist die beste Unterhaltung, und zwar deshalb, weil die Show eine Zumutung ist, die erfreut, weil man immer auf das Goldkörnchen im Sand hofft. Und meist ja auch findet: Europe, douze points! Europe, twelve points!

JAN FEDDERSEN