Identität und Aggression

Mehr als 1.000 Jahre – seit der Landnahme der Madjaren im Karpatenbecken – haben Slowaken und Ungarn auf dem Gebiet der heutigen Slowakei zusammengelebt. Allerdings nicht auf Augenhöhe: Die Ungarn waren traditionell die Herren, die Slowaken die Bauern und Dienstboten. Erst mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert begannen sich Konflikte auf ethnischer Basis zu definieren. Bei der Revolution 1848 hatten die Slowaken den österreichischen Kaiser gegen die aufständischen Ungarn unterstützt. Das haben die Ungarn nicht vergessen. Als das Königreich Ungarn mit dem Ausgleich 1867 größere Selbstständigkeit innerhalb der Monarchie bekam, wurden bald die slowakischen Gymnasien geschlossen. Es wurde starker Assimilationsdruck ausgeübt. RLD

VON RALF LEONHARD

Kein einziges Exemplar des Heimatkundebuchs sei an der Schule zu finden, versichert Marta Mitsová. Sie ist stellvertretende Schulleiterin des Marianums in Komarno. Man habe sämtliche Exemplare des skandalösen Werks ans Kultusministerium zurückgeschickt. Die für die dritte und vierte Klasse der Volksschule gedachten Bücher waren mit Beginn des Schuljahres im vergangenen September allen ungarischen Schulen in der Slowakei zugestellt worden.

Das Marianum, ein Bau aus den letzten Tagen der Monarchie, wirkt, umringt von realsozialistischen Plattenbauten, wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit. Hier, in und um Komárno, 100 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Bratislava, konzentriert sich die ungarische Minderheit in der Slowakei. Jenseits der Donau liegt die ungarische Stadt Komárom, die bis 1920 mit Komárno die alte Festungsstadt Komorn bildete. Sie wurde von den Türken, die große Teile Ungarns im 16. und 17. Jahrhundert besetzt hielten, nie eingenommen. Genauso widerständig geben sich die Ungarn heute gegen die slowakische Zentralregierung.

Die neuen Heimatkundebücher lösten in allen ungarischen Schulen des Landes Empörung aus. Denn in den aus dem Slowakischen ins Ungarische übersetzten Lehrmitteln sind Ortsnamen und topografische Bezeichnungen nur slowakisch zu finden. Daraufhin sackten die Beziehungen zwischen der Slowakei und ihrer ungarischen Minderheit auf einen Tiefpunkt ab.

„Ungarn über die Donau!“

Mit über 500.000 Menschen machen die Ungarn etwa ein Zehntel der Bevölkerung des jungen Staates aus und sind damit die größte Minderheit. Sie leben vor allem entlang der Grenze zu Ungarn, jener Grenze, die manche Madjaren, 90 Jahre nachdem sie von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gezogen wurde, noch immer nicht hinnehmen wollen. „Großungarn“ mit rund dem Dreifachen der heutigen Fläche bleibt vor allem für rechtsnationalistische Gruppen in Ungarn eine Losung.

Transparente mit solchen Sprüchen beobachtete auch Attila Petheö vom ungarischen Kulturverein Csemadok in Komárno bei jenem traurigen Fußballmatch. Anfang November wurde das Stadion in der slowakischen Stadt Dunajská Streda zum Kriegsschauplatz. Etwa 14.000 ungarische Fans waren zur Partie Slovan Bratislava gegen den lokalen Verein AC Dunajská Streda, dem traditionell die ungarische Minderheit die Daumen hält, angereist, davon rund 600 aus Ungarn. Hooligans oder gefährliche Provokateure habe er keine entdeckt, versichert Petheö. Vielmehr hätten die slowakischen Fans aus Bratislava mit dem Schlachtruf „Ungarn zurück über die Donau!“ die Stimmung angeheizt. Trotzdem sei die Polizei in der 17. Spielminute mit ihren Plexiglasschilden und der Antiaufruhrausrüstung in den ungarischen Sektor eingedrungen und habe mit Gummiknüppeln auf die Fans eingeprügelt. Mehr als 50 Personen wurden laut offiziellen Angaben verletzt. Petheö, der wenige Reihen über den Gewaltakten saß, war fassungslos.

Dieser Polizeieinsatz löste eine bilaterale Krise aus. Ungarns Premier Ferenc Gyurcsány forderte seinen slowakischen Amtskollegen Robert Fico auf, die Schuldigen zu bestrafen. Fico versicherte, die Polizei verfüge über Videobeweise. Bisher sind diese Bänder allerdings nicht vorgelegt worden. Fico und Gyurcsány haben einander seither dreimal getroffen. Wirklich entspannt hat sich die Lage dadurch nicht, denn beide stehen zu Hause durch nationalistische Populisten unter Druck.

In der Slowakei sitzt der Rechtspopulist Ján Slota mit seiner Slovenská národná strana (SNS) in der Regierungskoalition. Kürzlich beleidigte er die ungarische Außenministerin wegen einer schlecht sitzenden Frisur als „Schlampe“ und verunglimpfte den Nationalheiligen Stephan I., dessen Reiterstandbild auf der Burg von Buda steht, als „Clown auf einem Ross“. Die Schulbücher mit den slowakischen Ortsnamen gehen auf das Konto des SNS-Kultusministers. Nach dem Aufruhr setzte das Parlament in Bratislava auf Entspannung und stimmte – gegen die Stimmen der Slota-Partei – zugunsten des Wunsches der ungarischen Minderheit, die slowakischen Ortsnamen nur zur Ergänzung in Klammern anzugeben.

„Die Slowakei ist ein junger Staat mit einem noch nicht gefestigten Selbstbewusstsein“, sagt der Historiker Alexander Varga. Kurz nach der Abspaltung der Slowakei von der Tschechoslowakei 1992 war er als stellvertretender Ministerpräsident zuständig für Minderheiten und Menschenrechte. Er wurde 1942 in Komárno geboren, als die Stadt für wenige Jahre wieder zu Ungarn gehörte. Denn durch den Wiener Schiedsspruch von 1938 hatte Hitler die ungarischen Siedlungsgebiete der Tschechoslowakei dem faschistischen Horthy-Regime in Budapest zuschlagen lassen. Nach dem Krieg wurden die Grenzen wieder auf den Stand von 1920 korrigiert und, gerechtfertigt durch die Beneš-Dekrete, begannen Vertreibungen von Deutschen und Ungarn. Auch Vargas Familie saß bereits auf gepackten Transportkisten, als 1948 die Kommunisten die Macht übernahmen und die Zwangsaussiedlung stoppten. Ethnische Säuberungen passten nicht ins Bild des proletarischen Internationalismus.

Dass dann 40 Jahre proletarische Harmonie herrschte, wäre eine falsche Vorstellung, sagt Miklós Duray. Er ist einer der prominentesten Abgeordneten der Ungarnpartei MKP im Parlament, das auf einem Hügel über Bratislava thront: „Die Übergriffe kamen einfach nicht an die Öffentlichkeit.“ Ein Brandanschlag auf ein ungarisches Jugendzentrum 1986 sei nur ein Beispiel. Aber in letzter Zeit hätten antiungarische Aggressionen wieder zugenommen. Er selbst sei schon zweimal auf der Straße gezielt angerempelt worden. Und per Post hätte er jüngst eine Pistolenkugel bekommen nebst der Aufforderung, sich bis November aus der Politik zurückzuziehen. Duray gilt als Hardliner, einer, der das Ziel der Autonomie für die ungarischen Siedlungsgebiete nicht aufgegeben hat. Auf die Autonomieforderung reagieren die Slowaken aber allergisch. Schließlich hatte ihre eigene Abspaltung von der Tschechoslowakei vor bald 20 Jahren auch mit dem Ruf nach Autonomie begonnen.

Jüngste Umfragen unter Jugendlichen belegen, dass jede und jeder dritte unter 15-Jährige glaubt, die Ungarn seien die größten Feinde der Slowaken. Und 60 Prozent sind der Meinung, der Gebrauch der ungarischen Sprache solle auf den häuslichen Bereich beschränkt bleiben.

Das Marianum in Komárno leistet ganze Arbeit, die ungarische Identität der Schülerinnen und Schüler zu festigen. In der Eingangshalle hängen Porträts der mittelalterlichen Könige Ungarns, im Stiegenhaus die großen ungarischen Dichter. Der Unterricht erfolgt auf Ungarisch. Slowakisch wird, wie in allen ungarischen Schulen des Landes, verpflichtend als Fremdsprache unterrichtet. Trotzdem beherrschen in den ungarischen Siedlungsgebieten nicht alle die Staatssprache Slowakisch ausreichend. „Das ist ein Problem, wenn jemand in Bratislava oder der Nordslowakei Karriere machen will“, gibt Roman Behul, ein Bankfachmann in Bratislava, der sich auch mit Geschichte befasst, zu bedenken. Es sollte kein Problem sein, solange man sein Umfeld nicht verlässt. Doch der Staat sorgt dafür, dass seine Bürger auch in Komárno, wo die Ungarn mit 62 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen, ständig daran erinnert werden, in welchem Land sie leben. „Kürzlich war ich mit meinem Kind im Krankenhaus. Von der Diagnose des Arztes habe ich nur die Hälfte verstanden. Er konnte nur Slowakisch“, klagt Attila Petheö. Polizisten, Ärzte und anderes vom Staat entsandte Personal werde nicht genötigt, die Umgangssprache zu erlernen.

Zu Suzuki nach Esztergom

Nach der Beseitigung der Grenzkontrolle durch den Schengen-Beitritt beider Länder können Gebiete, die historisch zusammengehören, auch wieder zusammenwachsen. 5.000 Einwohner von Komárno arbeiten schon seit Jahren im Nokia-Werk der ungarischen Schwesterstadt Komárom. Sie müssen nur die Donaubrücke überqueren. Tausende andere pendeln zu Suzuki in die alte Bischofsstadt Esztergom oder zu Aldi und Siemens in Györ. Unter Bürgermeister Stefan Pásztor wurden schon vor einigen Jahren gemeinsame Sitzungen der Stadträte eingeführt. Die Grenze seit 1920, die ein Trauma bei der ungarischen Bevölkerung hinterlassen hat, gibt es nur mehr in den Köpfen. Was im Mikrokosmos der geteilten Stadt passiert, wird auch auf bilateraler Ebene versucht, zumindest im Bereich der Wissenschaft. Die 33-jährige Historikerin Anna Fundarková hat als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowakischen Vaters auch erlebt, dass die Vertreter der Volksgruppen gut miteinander auskommen können. Gemeinsam mit Kollegen aus Ungarn und der Slowakei arbeitet sie seit Jahren Material aus den Archiven auf, um die Lücken zu schließen, die durch die getrennte und daher einseitige Geschichtsschreibung entstanden sind. Das soll die Völker einander näher bringen. Denn, so Fundarková: „Es ist traurig, wenn man im 21. Jahrhundert mit der nationalistischen Karte noch Wähler mobilisieren kann.“