Überwachen und lieben

Fluchtwege im Supermarkt: In „Gigante“ von Adrián Biniez (Wettbewerb) verliebt sich ein Sicherheitsmann

Im Beinahe-Orwell-Jahr 1983 drehte Michael Klier einen Film, den er zur Gänze aus Aufnahmen aus Überwachungskameras montierte. Der Film hieß „Der Riese“ und ließ uns sehen, wie die elektronischen Augen unsere Welt wahrnehmen. „Gigante“ von Adrián Biniez, der im Wettbewerb der Berlinale läuft, teilt mit Kliers Werk zwar Titel und Gegenstand. Sein „Riese“ ist jedoch kein bedrohliches elektronisches Ungeheuer. Sondern ein Heavy-Metal-Fan.

Jara (Horacio Camandulle) ist ein Berg von einem Kerl. Auf seinem T-Shirt prangt in blutroten Buchstaben das Logo der Hardcore-Band Biohazard – biologisches Risiko –, doch wenn er zur Arbeit geht, wechselt er es gegen die gebügelte Uniform einer Security-Firma. Nachtschicht für Nachtschicht sitzt er in der Sicherheitszentrale eines Supermarktes am Rand von Montevideo und beobachtet, wie die Putzkolonnen den Markt für den nächsten Tag vorbereiten. Viel zu sehen außer Kabbeleien zwischen den Lagerarbeitern gibt es nicht. Dies ist nicht die Welt der Spionagethriller, wo das nächste Hightech-Spielzeug immer nur einen Knopfdruck entfernt ist: Dieser Überwacher hat den eintönigsten Job der Welt.

„Gigante“ hat ein feines Gespür für die Verteilungen von Macht und Ohnmacht, für die Möglichkeit von Solidarität unter prekarisierten Angestellten und für die kleinen Fluchtwege, die im auf Effizienz getrimmten Supermarktregime noch offen bleiben. Eines Nachts hilft Jara der Putzfrau Julia (Leonor Svarcas) aus der Klemme. Sie bemerkt davon nichts, hat aber fortan in Jara einen heimlichen Beschützer. Er beginnt ihr auch außerhalb der Arbeit zu folgen, besorgt sich ihre Akte, horcht ihre Bekanntschaften aus.

Wo andere Filme an dieser Stelle in einen paranoiden Stalkingthriller übergehen würden, entwickelt „Gigante“ sich zur romantic comedy. Das macht der Film nicht ohne Charme – aber er vergibt die Möglichkeiten auf eine komplexere Thematik, die er in seiner ersten Hälfte angesammelt hat. Dass ein Teil der Belegschaft in Streik tritt, weil mehreren Mitarbeitern gekündigt wurde, wird im Film nicht politisch, sondern lediglich auf der Ebene einer persönlichen Fehde verhandelt. Weil Julia unter denen ist, die an die Luft gesetzt werden, bekommt Jara einen Wutausbruch und verprügelt den Abteilungsleiter. „Gigante“ hat einige Momente einer solchen körperbetonten Slapstickkomik: als wolle der Film den Umstand, dass über die sogenannten Sicherheitstechniken, über Kameras und Walkie-Talkies, nur distanziert kommuniziert wird, wieder ausgleichen.

Auch die Tatsache der allgegenwärtigen Überwachung wird öfter verhandelt – einmal wird Jara selbst zum Objekt der Beobachtung, als er Julia in ein Lebensmittelgeschäft folgt. Letzten Endes ist „Gigante“ zwar ein sympathischer Film, aber auch ein Beispiel für ein allseits kompatibles Weltkino, das von zu vielen Produzenten weichgespült wurde. DIETMAR KAMMERER

„Gigante“. R.: Adrián Biniez. Mit H. Camandulle, L. Svarcas. Uruguay u. a. 2009, 84 Min. 9. 2., 9.30 Uhr, Friedrichstadtpalast, 17.30 Uhr Urania