Die Scheinbraut

VON WLADIMIR KAMINER

Frau Müller lernte ich vor dreizehn Jahren auf einer Party im Pfefferberg kennen, als ich eine Scheinehefrau für meinen Freund Georgi suchte. Um Telefonkosten für Ferngespräche zu sparen, wollte ich damals meine beiden besten Freunde aus Moskau nach Berlin holen und schickte jedem eine Einladung.

Für den einen kam die Einladung zu spät: Andrei, mit dem Georgi und ich im Kindergarten am selben Tisch gesessen und einander mit Grießbrei beworfen hatten, war bereits nach San Francisco abgedüst. Er wollte immer schon nach Amerika. Dafür bewarb er sich zunächst in Moskau bei einer amerikanischen Einrichtung, die Erzieher und Pfleger mit guten Englischkenntnissen für debile amerikanische Kinder suchte. Vielen schien eine solche Beschäftigung verlockend, um ein fremdes Land kennen zu lernen und dabei noch Geld zu verdienen. Nicht einmal seine Eltern glaubten, dass Andrei diesen Job jemals bekommen würde. Er gewann aber bei dem Wettbewerb und fuhr nach Nashville, Tennessee, das in Russland fälschlicherweise als Heimat von Johnny Cash gilt.

Andrei stellte sich seinen Alltag dort sehr blauäugig vor. Tagsüber würde er mit debilen Kindern durch die Gegend laufen, dabei Eis essen und abends mit Johnny Cash in einer Kneipe sitzen. In Nashville geriet er aber in eine geschlossene Einrichtung für Schwerbehinderte, die sein Englisch nicht verstanden und ihn ständig mit Popcorn bespuckten. Dieses Nashville erwies sich als ein richtiges Loch, und Johnny Cash war nie dort gewesen. Nach einem Monat fuhr Andrei zurück nach San Francisco. Dort lebte Roman, ein anderer Kindergartenfreund von uns, bereits seit über einem Jahr.

San Francisco ist eine Stadt mit vielen Sondergesetzen. Dort kann zum Beispiel eine Baufirma nur dann einen staatlichen Auftrag bekommen, wenn sie mindestens dreißig Prozent schwule Bauarbeiter beschäftigt. Andrei schwulte sich schnell zu einem Bauarbeiter um und bekam sofort einen Job. Regelmäßig schickt er uns seitdem Briefe aus Kalifornien mit lustigen Geschichten über Männersex auf amerikanischen Baustellen. „Du kannst ruhig diese Geschichten für deine Arbeit verwenden“, schrieb er mir neulich. „Du kannst es auch so schreiben, als wäre dir das alles passiert.“ Auf dieses großzügige Angebot möchte ich aber verzichten. Die Geschichten sind zwar oft ganz spannend, doch tief in meinem Herzen bin ich froh, dass das alles nicht mir passiert.

Zurück zu Frau Müller: Mein anderer Kindergartenfreund, Georgi, kam also mit meiner Einladung im Sommer 1991 nach Berlin mit einem Touristenvisum für zwei Wochen, die schnell vorbei waren. Die einzige Möglichkeit für ihn zu bleiben, war, ganz schnell eine Scheinehefrau zu finden, am besten eine, die nicht allzu geldorientiert war, denn wir hatten damals kein Geld. Also ging ich von einer Party zur nächsten und suchte nach einer Scheinbraut für meinen Freund. Er selbst tat in der Zwischenzeit alles, um seinen Aufenthalt in Deutschland zu verkürzen: Einmal hatte er sich zum Beispiel von einem Bekannten einen alten Trabant ausgeliehen und wollte damit zum Tegeler See fahren. Er schaffte es bis zum Wedding und blieb dann mitten auf der Seestraße stehen. Der Tank war voll und auch sonst alles scheinbar in Ordnung. Georgi, der sich für einen begabten Automechaniker hielt, schob den Wagen in eine Fußgängerzone und fing an, ihn auseinander zu bauen. Natürlich kannte sich mein Freund mit den Feinheiten der ostdeutschen Autoindustrie nicht aus. Er wusste nichts vom kleinen geheimen Hebel, den man bei halber Tankfüllung auf Reserve umstellen musste. Diesen Trick hatte die sowjetische Industrie nicht einmal bei Motorrollern verwendet.

Nach zwei Stunden beschloss er, einen einheimischen Spezialisten aufzusuchen, und ging zu einer Tankstelle in der Nähe. In seiner Abwesenheit trat ein Fußgänger gegen den Trabant, und dieser kam ins Rollen, wobei er einen Blumenladen rammte. Aber zurück zu Frau Müller. Sie kam aus Nürnberg nach Berlin, um hier irgendetwas zu studieren. Zu Hause hatte Frau Müller eine strenge katholische Erziehung durchlitten, sie durfte zum Beispiel ihren Freund am Wochenende nicht zu sich nach Hause einladen, deswegen ging in Berlin dann gleich das wilde Leben los. Sie wohnte in einer WG und lud nicht nur am Wochenende, sondern täglich alle Freunde und Freundinnen zu sich nach Hause ein. Frau Müller hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, außerdem stürzte sie sich auf alles, was ihre Eltern ablehnen würden. Und so erklärte sie sich bereit, meinen Freund vom Fleck weg zu heiraten.

Beide hatten am Anfang große Kommunikationsschwierigkeiten. Aber dann kaufte Georgi in einer Kreuzberger Kneipe für sein letztes Geld etwas, was wie Laub aussah, das jedoch – wie der Verkäufer versicherte – Magic Mushrooms sein sollten. Frau Müller kostete auch etwas von diesem Zeug, anschließend kotzten die zwei das Zimmer voll und wurden dabei wie Bruder und Schwester. Nichts bringt die Menschen einander näher als gemeinsames Leiden. Die Scheinehe wurde geschlossen und hielt vier Jahre. Eine Zeit lang verwandelte sie sich sogar in eine wahre Liebesbeziehung.

Nach einem Jahr verliebte sich Frau Müller aber in einen Japaner, der Architektur studierte und auf uns immer sehr schläfrig wirkte. Er sah einem nie in die Augen und tat nur das, was Frau Müller ihm sagte. Wir vermuteten, dass sie ihn hypnotisiert hatte. Danach verliebte sie sich noch in einen Ägypter und wollte ihn sogar heiraten, was natürlich unsere Scheinehe gefährdete. Zum Glück war die Familie des Ägypters streng dagegen. Seine Eltern hatten ihn gegen seinen Willen mit einer arabischen Schönheit aus dem Nachbarhaus zwangsverheiratet. Frau Müller wollte zum Islam übertreten und als zweite Ehefrau bei dem Ägypter einsteigen, was sie in Hinblick auf ihre Eltern auch bestimmt getan hätte, wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht in einen anderen Mann verliebt hätte.

Nach vier Zitterjahren wurde unsere Scheinehe erfolgreich geschieden, Georgi bekam eine Aufenthaltserlaubnis und beschloss, nie wieder zu heiraten. Er hätte nie gedacht, dass eine Ehe so anstrengend sein kann. Frau Müller ging nach acht Jahren turbulenten Berliner Studiums nach Nürnberg zurück, wo sie nun mit ihrem alten Freund zusammenlebt, der sie früher am Wochenende nie zu Hause besuchen durfte. Im vergangenen Jahr bekamen wir eine Weihnachtskarte von ihr. Darauf küssen sich zwei blöd aussehende Affen mit roten Zipfelmützen. Wir wissen nicht, wie Frau Müller das gemeint hat. Wir hoffen, es geht ihr gut.

WLADIMIR KAMINER, 37, „Russendisko“-Autor, lebt verheiratet in Berlin