piwik no script img

Das urzeitliche Gefrierfach

Im auftauenden Permafrostboden finden Forschende viele Tiere und Pflanzen, die über Jahrtausende erhalten geblieben sind. Für die Paläontologie ist das Auftauen allerdings mehr Fluch als Segen

Statue eines Mammuts vor dem Permafrost-Institut in JYakutsk, Russland Foto: Emile Ducke/NYT/Redux/laif

Von Birk Grüling

Die Permafrostböden dieser Erde tauen. Der vom Menschen verursachte Klimawandel lässt die dauer­ge­fro­renen Böden aufweichen. Dadurch werden klimaschädliche Treibhausgase freigesetzt, die den Klimawandel weiter anheizen und gefährliche Kipppunkte in Gang setzen könnten. Dabei taucht auch auf, was seit Jahrhunderten in den Tiefen des Permafrosts schlummerte.

Was klingt wie der Beginn eines Science-Fiction-Thrillers, ist in der Realität manchmal sogar ziemlich niedlich. 2020 entdeckten Forschende in Sibirien die Überreste eines Säbelzahnkatzenbabys. Obwohl vor 35.000 Jahren gestorben, blieb das Homotherium-Jungtier im eisigen Boden erstaunlich gut erhalten. Fell, Pfoten mit Krallen und sogar die Schnurrhaare waren noch deutlich zu erkennen. In der Pa­lä­on­to­logie spricht man von einer Säbel­zahnkatzenmumie. Das Jungtier starb mit nur drei Wochen.

Der Fund verrät viel über das Aussehen und die Entwicklung der eiszeitlichen Raubkatzen. So hatte das Katzenbaby noch keine Säbelzähne. Diese wuchsen erst später und wurden bei den erwachsenen Tieren sehr groß. Mit ihren langen Zähnen jagten sie sogar kleine Mammuts oder eiszeitliche Bisons. Auffällig sind auch die großen Pfoten der kleinen Säbelzahnkatze. Damit konnte sie besonders gut über Schnee laufen, ohne einzusinken. Solche „Eismumien“-Funde gab es in den letzten Jahren deutlich häufiger, in den Medien und in der Wissenschaft sorgen sie stets für Aufsehen.

Doch längst nicht alles, was auftaut, landet in den Forschungseinrichtungen. „Den Forschenden vor Ort werden derzeit viele Funde angeboten. Leider fehlt den Museen und Universitäten oft das nötige Geld, um sie zu kaufen“, berichtet die Paläontologin Dorothée Drucker von der Universität Tübingen. Und wegen des Ukrainekriegs liegen außerdem viele internationale Forschungskooperationen auf Eis, es machen weniger Forscherteams Ausgrabungen vor Ort. Die Folge: Viele Funde verschwinden für immer, werden zerstört oder landen auf dubiosen Wegen in Privatsammlungen.

Vor allem Mammutstoßzähne seien auf dem Schwarzmarkt sehr begehrt, seit es strengere Schutzmaßnahmen für das Elfenbein heute lebender Elefanten gäbe, sagt Drucker. Dass in weiten Teilen Sibiriens große Armut herrscht und den Menschen Perspektiven fehlen, heizt die Goldgräberstimmung zusätzlich an. Längst tauen die Eiszeitmumien nicht mehr nur zufällig auf oder werden beim Aufweichen der Böden auf der Suche nach Bodenschätzen gefunden. Der Verdacht liegt nahe, dass findige Glücksritter gezielt nach den Spuren der Eiszeit suchen, um sie später an Sammler zu verkaufen. Dass dabei wenig dokumentiert und noch mehr zerstört wird, liegt auf der Hand. Wie groß der Schaden für die Wissenschaft ist, lässt sich nur erahnen.

Große Funde bringen auch ­große Erkenntnisse mit sich

Glücklicherweise gibt es auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr wurde in Russland ein 44.000 Jahre alter Wolfskadaver entdeckt. Und im Dezember präsentierten russische Forscherinnen und Forscher das 180 Kilogramm schwere, 1,20 hohe und rund zwei Meter lange Mammutbaby Jana. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters bezeichnete es Maxim Cheprassow, Laborleiter des Lasarew-Mammutmuseums, als den am besten erhaltenen Mammutfund der Welt. Besonders ungewöhnlich sei, dass Kopf und Rumpf überdauert hätten. Der Erkenntnisgewinn durch solche Funde sei groß, bestätigt Drucker. „Wir erfahren viel über das Aussehen und die verschiedenen Wachstumsstadien der Eiszeittiere. Manchmal finden die Forscherinnen und Forscher auch Nahrungsreste im Magen. So lässt sich ihre tägliche Nahrung zweifelsfrei bestimmen.“

Selbst das Genom und die Chromosomenstrukturen eines 52.000 Jahre alten Wollhaarmammuts konnten dank eines Funds aus Sibirien rekonstruiert werden. Das bringt die Mammuts zwar nicht zurück auf die Erde, hilft aber, die Evolution und die genetischen Beziehungen ausgestorbener Arten zu rekonstruieren. Doch es sind nicht immer nur die großen, spektakulären Funde, die Aufschluss über die Ökosysteme der Eiszeit geben und nun vom Klimawandel gefährdet werden.

Stefan Kruse vom Alfred-Wegener-­Institut interessiert sich für Mikro­fossilien aus dem Permafrostboden, zum Beispiel Pollen, Sporen oder Samen. „Die im Permafrost konservierten Pollen und Samen sind sehr gute Bioindikatoren. Mit ihrer Hilfe können wir die Vegetation und das Klima vergangener Zeiten analysieren“, sagt er. Diese fossilen Spuren finden sich im abgelagerten Sediment in Seen und Tümpeln, wo sich Pollen und Samen aus der Umgebung sammelten, oder in alten Böden, in denen durch den jahreszeitlichen Gefrier-Tau-Wechsel innerhalb weniger Jahrzehnte die Pflanzenspuren in den Permafrostboden eingelagert wurden.

Deshalb sind Steilufer eine ergiebige Quelle für Mikrofossilien. Die Forschenden entnehmen oft auch Bohrkerne aus dem Seeboden oder dem gefrorenen Boden und untersuchen sie im Labor Schicht für Schicht. Wie auf einer Zeitschiene lassen sich die einzelnen Abschnitte ablesen. Deutlich sind die Veränderungen im Ökosystem zu erkennen. In den ältesten Phasen wuchs in der Tundra kaum etwas. Doch in den wärmeren Phasen breitete sich im heutigen Sibirien die fruchtbare Mammutsteppe aus. Sie bot genügend Nahrung für Mammut-, Rentier- und Wisentherden. In den wärmeren Zwischeneiszeiten ist der Anteil von Baum- und Strauchpollen, zum Beispiel von Lärchen, Birken und Kiefern, deutlich höher, was auf die Ausbreitung von Wäldern in milderen Klimaphasen hinweist. Die Pollenfunde dokumentieren auch Klimaschwankungen über Zehntausende von Jahren – zum Beispiel die Übergänge zwischen Eis- und Warmzeiten.

„Diese Daten sind wertvoll, um die Dynamik des Klimas und die daraus resultierenden Veränderungen der Ökosysteme in den Permafrost­re­gio­nen des Pleistozäns besser zu verstehen, vor allem wenn sie mit Daten aus Sedimenten oder Tierfunden kombiniert werden“, erklärt Kruse. Allerdings sind die fossilen Pollen sehr empfindlich. Taut der Boden auf oder senkt er sich plötzlich, werden Schichten zerstört, bevor sie vollständig untersucht sind. Die Folge: Die Bohrkerne werden immer kürzer, der Blick in die Vergangenheit lückenhafter.

Da unten schlummert nicht nur Gutes vor sich hin

Das ist nicht das letzte Problem. Durch das Auftauen der Permafrostböden könnten noch viel kleinere, aber höchst problematische Überreste aus der Urzeit an die Oberfläche kommen – und zwar Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger, die zum Beispiel an gefrorenen Kadavern haften. Der Permafrostboden ist ohne Sauerstoff, dunkel und eisig kalt, eine ideale Umgebung für urzeitlichen Mikroben. So entdeckte ein französisches Forscherteam 2022 13 unbekannte Virenarten, die unter anderem aus Mammutwolle und dem Mageninhalt eines im Permafrost eingefrorenen sibirischen Wolfs isoliert wurden. Die ältesten Viren waren fast 50.000 Jahre alt. Im Labor konnten die Forschenden die Viren sogar „aufwecken“.

Für den Menschen sind diese aktuell bekannten Erreger vermutlich harmlos. Doch das muss nicht so bleiben, befürchten die Forschenden. Die Mikroben könnten Krankheiten auslösen, gegen die Menschen und Tiere heute noch keine Immunität besitzen. Ein Beispiel dafür ist der Milzbrand-Ausbruch 2016 in Sibirien, bei dem Sporen des sogenannten Bacillus anthracis aus dem schmelzenden Permafrostboden entwichen und zahlreiche Rentiere infizierten. Zumindest auf ähnliche Ausbrüche beim Menschen, etwa durch eine alte Form von Polio – also Kinderlähmung–, müsse man vorbereitet sein, raten die Experten. Vor allem, wenn immer mehr Urzeitkadaver aus dem Gefrierfach fallen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen