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Jahrestag des russischen GroßangriffsGedanken zu elf Jahren Krieg in der Ukraine

Der Februar ist ein schwarzer Monat für die Ukraine, er steht für Krieg und Verrat. Doch die Menschen kämpfen weiter. Denn sie haben keine Wahl.

Blackout in Kyjiw: Jede Nacht wird die Ukraine von russischen Drohnen attackiert, häufig trifft es die Energieinfrastruktur Foto: Efrem Lukatsky/ap/dpa

Luzk taz | Februar ist ein schrecklicher Monat für Ukrainer*innen. 2014 wurden sie auf dem Maidan erschossen weil sie das prorussische Regime von Wiktor Janu­kowitsch stürzen wollten. Es folgten die Annexion der Krim und die hybride russische Invasion.

Im Februar 2015 wurde in Minsk ein Abkommen unterschrieben, das die heiße Phase des Krieges aussetzte, aber die Russen im Donbass beließ. Im Februar 2022 begann der große Krieg mit Russland

Und der Februar 2025 schließlich ist der Monat des US-amerikanischen Verrats. Als erstes wurden die Hilfen von USAID eingestellt, dann führte Trump ein freundschaftliches Gespräch mit Putin, nannte Selenskyj einen Diktator und begann Verhandlungen mit Russland. Gleichzeitig forderte er von Kyjiw die Rückzahlung von mystischen 500 Milliarden Dollar in Form von Bodenschätzen.

„Bald werden die USA Reparationen von der Ukraine fordern“, „Amerika rettet Putin“, Trump ist ein Gauner“ – so klang es am Vorabend des 24. Februar gerade in den ukrainischen sozialen Netzwerken. Auf Facebook schlugen Scherzbolde vor, Trumps morgendliche Weckrufe in die Liste der Gründe für Luft­alarm aufzunehmen. So etwa wie: „Achtung, Trump ist wach, verlassen Sie jetzt Social Media, gleich geht es los …“

EU berät zur Ukraine

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident António Costa nehmen am Sonntag in London an den Beratungen europäischer Länder zur Ukraine und zur Sicherheit Europas teil. Vorher wollte der britische Premier Keir Starmer US-Präsident Donald Trump in Washington treffen. Europäer wie Ukrainer befürchten, Trump und Präsident Wladimir Putin könnten ohne ihre Beteiligung ein Waffenruheabkommen vereinbaren, das Kyjiw zu erheblichen territorialen Zugeständnissen zwingen würde. (afp)

Totale Erschöpfung

Die Gesellschaft ist heute ohne Zweifel eine andere als noch vor drei Jahren. „Sollte ich meine momentane Verfassung beschreiben, würde ich ‚höllische Erschöpfung‘ sagen“, meint Oleksandr Holownyzkyj, ein Soldat aus dem west­ukrainischen Kowel, der gerade eine Woche Fronturlaub hatte. „Nicht nur körperlich, sondern auch aufgrund von Eintönigkeit, Anspannung, hoher Verantwortung und Angst.“

Heute diskutiert man Dinge, die noch vor zwei Jahren völlig undenkbar waren – wie den Abtritt von Gebieten

Die Zivilbevölkerung ist nicht weniger erschöpft, psychisch, finanziell und emotional. Heute diskutiert man Dinge, die noch vor zwei Jahren undenkbar waren, wie den Abtritt von Gebieten. Auch die Mobilmachung gerät ins Stocken. Die Verluste im Krieg, die Informationsattacken in den sozialen Medien, das Fehlen jeglicher Form von militärischer Unterstützung, vor allem die Unsicherheit in Bezug auf die USA, haben dazu geführt, dass weniger Menschen bereit sind, zu kämpfen.

Denn auch militärisch ist kein Frieden in Sicht: In den letzten Monaten haben die Russen jede einzelne Nacht mindestens 100 bis 130 Drohnen in Richtung Ukraine geschossen. Jeden Morgen lasen die Ukrainer also zuerst die Nachrichten über die nächtlichen Angriffe, dann über die Verteidigung von Pokrowsk und Torezk und anschließend Überlegungen zum ‚schwarzen Datum‘ ihrer Geschichte.

Unsere Antwort heißt Kämpfen

Doch selbst unter diesen Umständen, trotz Erschöpfung, Krise und Steuererhöhungen seit dem 1. Januar stellten die größten Wohltätigkeitsorganisationen fest, dass die Menschen ähnlich viel für die Armee spenden wie im Vorjahr. Wohl auch als Reaktion auf die neuen Bedrohungen.

Meinungsumfragen haben gezeigt, dass die Unterstützung für Selenskyj im Februar zugenommen hat. Zwar genießt er weniger Vertrauen als 2022 – aber das normal für eine Demokratie, die in der Ukraine allen Widerständen zum Trotz funktioniert. Der aktuelle Anstieg um einige Prozentpunkte ist eine Reaktion auf Trumps Attacken. Und dabei geht es weniger um die Person Selenskyj, als darum, dass die Ukrainer die Legitimität ihres Präsidenten in einer Zeit, da er von außen angegriffen wird, unterstreichen wollen.

Keine Wahl unter Kriegsrecht

Ähnlich ist es auch beim Thema Wahlen: Die meisten Ukrai­ne­r*in­nen sind gegen Wahlen, bevor wirklich Frieden herrscht. Denn diese Wahlen unter Kriegsrecht wären verfassungswidrig, es gäbe auch Sicherheitsfragen. Vor allem aber müssten an demokratischen Wahlen auch Soldaten teilnehmen können. Ohne sie wären Wahlen schon aus ethischen Gründen nicht akzeptabel.

All das bedeutet, dass die Ukrai­ne­r*in­nen als Gesellschaft – mit all ihren Widersprüchen, ihren Streitigkeiten, ihrer Erschöpfung – immer noch bereit sind zu kämpfen. Sie sind bereit, bei Streitfällen einen Konsens zu finden bzw. sich noch eine weitere Spende für die Armee aus den Rippen zu leiern.

„Wenn wir über ‚Frieden‘ sprechen, dann sprechen wir gewöhnlich über ukrainische Gebietsabtritte und über Bodenschätze, warum auch immer. Worüber wir hingegen nicht sprechen, sind ukrainische Kriegsgefangene, zerstörte Städte, Zehntausende verschleppte ukrainische Kinder … Es wäre falsch, die Ukraine zu solch einem ‚Frieden‘ zu zwingen, denn er würde wahrscheinlich nicht von Dauer sein. Und eine Ukraine, die im Westen so unsicher ist, kann kein verlässlicher Partner für Europa sein“, schrieb der ukrainische Historiker Radomyr Mokryk auf seiner Facebook-Seite.

Und der ukrainische Soldat und Schriftsteller Artem Tschech erklärte kürzlich in einem Gastbeitrag für die New York Times schlicht: „Die Ukrai­ne­r*in­nen werden weiterkämpfen. Denn sie haben kein anderes Land.“

Jetzt wäre Europas Zeit

Aber jede Ressource ist irgendwann erschöpft. Und wenn Europa seine Stärke und Entschlossenheit zeigen müsste, dann wäre jetzt der beste Zeitpunkt dafür. Dann könnten die Ukrainer merken, dass ihre oft idealisierte Vorstellung von Europa, auf den Werten basiert, für die Europa steht und für die es zu kämpfen bereit ist – so, wie es die Ukraine längst tut.

Jurij Hudymenko, ein ukrainischer Soldat und Blogger, der im Krieg verwundet wurde, erinnert sich daran, dass die Menschen auf dem Maidan im Winter 2013/14, als sie „Die Ukraine ist Europa“ skandierten, nicht nur die Geografie und den ukrainischen EU-Beitritt im Blick hatten.

„Wir dachten, dass die Ukraine Teil der europäischen Zivilisation sein, die die Demokratie, freie Wahlen, Pressefreiheit und Parlamente erfunden hat. Das, was wir unter freiheitlichen Werten verstanden haben. Im Gegensatz zu dem konventionellen, despotischen Asien, das für uns durch Russland, Putin und Janukowitsch verkörpert wurde. Aber wenn ich heute sage ‚Die Ukraine ist Europa‘, denke ich, dass eben genau die Ukraine jetzt Europa ist, und dass es kein anderes Europa mehr gibt als die Ukraine. Nicht im geografischen, sondern im semantischen und historischen Sinn.“

Aus dem Ukrainischen: Gaby Coldewey

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