: Die Müllschmerzen der großen Seejungfrauen
Die Farce „Modern Mermates“ in Kiel befasst sich aus Sicht von Meeresbewohner*innen mit der Vermüllung der Ozeane und der Klimakatastrophe. Über deren Schrecken erlaubt der böse Humor des Stücks, auch mal beklommen zu lachen
Von Esther Geißlinger
Unten waten sie im Dreck, oben tuckern Kreuzfahrtschiffe. Doch eines Tages wagen die Meeresbewohner:innen in dem Stück „Modern Mermates“, das am Theater Kiel uraufgeführt wurde, den Aufstand gegen die Menschen und die Vermüllung ihres Lebensraums. Das ist sehr komisch – wenn es nicht so furchtbar traurig wäre.
Solange die Bühne im kleinen Studio des Kieler Schauspielhauses im Halbdunkel liegt, könnte sie eine anmutige Landschaft aus Felsen darstellen, gestört nur durch einige Plastikverpackungen. Als das Licht angeht, zeigt sich: Der Grund ist komplett von Müll bedeckt. Auch die Felsen bestehen aus Folien.
Alle Weile strömt Schaum aus einer Düse und verschlimmert die Lage noch. Delfin Dirk (Yvonne Ruprecht), invalide durch langen Dienst als Begleiter der Göttin Demeter, ist eh schon alles egal: „Ich hab’Mikroplastik im Atem, also kann ich auch rauchen.“ Nachschub gibt es genug: „Zigarettenkippen machen acht Prozent des Mülls am Meer aus“, weiß Dirk.
Solche Hinweise sind in den Text eingestreut und lenken den Blick immer wieder auf die echte Situation der Weltmeere und konkret der Ostsee, an der das Stück angesiedelt ist. Dort leben Thetis (Tiffany Köberich) und Amphinome (Isabel Baumert), die Mermaids, also Meermaiden, oder Meer-Gemachte, Mermades? Passt beides nicht so recht, finden sie, während sie sich in lockerer Sportkleidung mit ein bisschen Glimmer und Glitzer auf dem vermüllten Grund tummeln. Sie einigen sich schließlich auf Mermates. Unter allen mythologischen Geschöpfen käme ihresgleichen am schlechtesten weg: „Wir warten immer nur auf Erlösung.“ Am schlimmsten sei die kleine Seejungfrau. Warum sich eine Nixe Beine statt der Flosse wünschen sollte, ist beiden nicht klar: „Igitt, Füße!“
Modern Mermates, Theater Kiel, Studio am Schauspielhaus, wieder am 2. und 9. 3., jeweils um 19.30 Uhr, sowie am 4.,12., 17. und 25. 4., jeweils um 20.30 Uhr
Dass die Menschen die Natur mit Füßen treten, ist vom Meeresgrund aus bestens zu sehen. Die Mermates beschließen, dagegen auf dem Klageweg vorzugehen. Doch das Gericht weist den Fall ab. Nun besinnen sich die beiden auf ihre Sirenen-Fähigkeit, Seeleute per Gesang auf einen Felsen zu locken. Mit wallenden Locken und wogenden Busen geht es auf die Jagd nach Traumschiffen.
Entstanden ist die Farce im Rahmen des Wettbewerbs „Textflimmern“, zu dem das Theater Kiel und das Literaturhaus Kiel aufgerufen haben. Das Oberthema lautete Klimawandel. Eine Jury prüfte 53 Einsendungen und entschied sich für den Entwurf von Simone Saftig. Die Dortmunderin, Jahrgang 1993, hat Literaturwissenschaften studiert, arbeitet als Journalistin und freie Autorin. „Modern Mermates“ ist das dritte Theaterstück von ihr, das seine Uraufführung erlebt.
Simone Saftig, Autorin und Dramatikerin
Beim Schreiben stand für sie der Mythos der Wasserfrauen als Projektionsfiguren, mal niedlich, mal gefährlich, im Vordergrund, berichtete Saftig bei einem Publikumsgespräch im Schauspielhaus. „Und wenn es Meerjungfrauen gäbe, worüber würden sie wohl reden? Den Klimawandel.“ Wie ernst der Autorin das Thema ist, blitzt immer wieder auf. „Unser Schmerz ist für sie nur Blubberblasen“, sagt Thetis, nachdem das Gericht die als Beweise vorgelegten abgerissenen Hai-Flossen oder in Netzen erstickten Pinguine als irrelevant zurückgewiesen hat. Demos oder Streik als Mittel? Das würde die Menschen gar nicht stören, ahnt Amphinome: „Wir arbeiten nicht für sie.“ Das erinnert stark an die endlosen Debatten bei Klimakonferenzen und die Proteste kleiner Inselstaaten, die kaum Schuld am Steigen des Meeresspiegels tragen, aber als erste betroffen sind.
Das Stück nimmt den realen Problemen mit teils albernem, teils bösem Humor den schlimmsten Schrecken. Dabei helfen die vielen Einfälle der Inszenierung, an der Johannes Ender als Regisseur, Tristan Brenzmüller als Dramaturg und Hannah Landes als Ausstatterin beteiligt sind. So robben die Mermates unter Klängen der Mission-Impossible-Filme durch den Müll. Die Touristen Laurie und Harry als Vertreter:innen der Menschheit geraten angesichts von ihren sooo soften Liegen in geradezu sexuelle Ekstase – dargestellt werden die beiden durch Strumpfpuppen, die Yvonne Ruprecht ebenso wie das Kreuzfahrtschiff spielt.
Die Frage, wie sich so ein Riesendampfer auf eine Bühne bringen lässt, habe sie beim Schreiben nur kurz beschäftigt, berichtet Autorin Saftig: „Ich war froh, dass ich das nicht lösen musste.“ Regisseur Ender fand einen Weg, indem er Ruprecht ein Pappmodell umhängt.
Die Schauspielerinnen Tiffany Köberich als großäugig verzweifelte Thetis, die sich zur furienhaften Sirene wandelt, und Isabel Baumert als ihr zaudernder Widerpart überzeugen, die vielbeschäftigte Yvonne Ruprecht sowieso. Den Schlussakkord des Dramas setzen dann die Menschen: Es zeigt sich, dass sie zu Mitleid nicht fähig sind. Das ist böse. Aber wirklichkeitsnah.
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