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„Tagebücher in Liedern“

Die Osnabrücker Musikwissenschaftlerin Christine Oeser hat erstmals systematisch Liedsammlungen aus dem KZ Buchenwald untersucht. Das waren teils aufwendig gestaltete Hefte mit Bildern und Dokumenten, die halfen, den Lageralltag zu bewältigen

Ein Blatt aus „Sen południowych wód“ („Ein Südseetraum“) im künstlerischen Album von Józef Pribula, 1944 Foto: Abb: Gedenkstätte Buchenwald

Interview Petra Schellen

taz: Frau Oeser, wann wurde im KZ Buchenwald und anderen Lagern gesungen?

Christine Oeser: Da gab es einmal das verordnete Singen – auf dem Appellplatz, beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitskolonnen, aber auch, während Mitgefangene gefoltert und hingerichtet wurden. Dann mussten die Häftlinge Lieder singen wie das „Buchenwaldlied“, das diffamierende „Judenlied“ oder „Liegt ein Dörflein mitten im Walde“, ein Schlager von Arno Holz aus den 1930er-Jahren. Wobei es zwischen dem verordnetem und dem selbstbestimmtem Musizieren viele Graustufen gab: Vieles wurde von den SS-Wachmannschaften toleriert, wenn sie die Lieder für unbedenklich hielten. Das Singen konnte aber jederzeit auch Strafen nach sich ziehen. Daneben wurde im Geheimen gesungen, zum Beispiel Widerstands- und Arbeiterlieder.

taz: Welche Lieder haben Sie in den Sammlungen aus Buchenwald gefunden?

Oeser: Sie enthalten nur zu einem Drittel KZ-Lieder. Der Großteil der dort aufgezeichneten Lieder entstand also nicht im KZ. Wir finden alles, was damals populär war: Volkslieder, Operettenschlager, Nationalhymnen, Lieder der deutschen Jugendbewegung, des Wandervogels, Arbeiter-, Soldaten- und Partisanenlieder.

taz: Und wovon handeln speziell die KZ-Lieder?

Oeser:Die Gefangenen setzen sich darin mit Belastungssituationen des Lageralltags auseinander, wie Hunger, Tod oder der Trennung von ihren Familien. Kazimierz Tymiński zum Beispiel wurde während seiner Gefangenschaft Vater, bekam ein Foto geschickt und sah erstmals seine Tochter. Ein Mitgefangener verfasste daraufhin für ihn ein Gedicht, das Tymiński als Wiegenlied vertonte. Der polnische Komponist Józef Kropiński dagegen verarbeitete in einem Lied seine Verzweiflung. Das Lied endet mit dem Tod des Häftlings, der beschließt, in den elektrisch geladenen Stacheldraht zu gehen. Es gibt aber auch aufbauende Lieder. Insgesamt finden sich unterschiedliche Formen der Bewältigung des Lageralltags, die von Selbstbehauptung bis zu Hoffnung, Gemeinschaftsbildung und sogar Humor reichen.

taz: Wie äußerte sich der Humor?

Oeser: Zum Beispiel in Form von Kontrafakturen, also der Unterlegung bekannter Melodien mit humorvollen Texten. Die Bewacher hörten dann ein bekanntes Volkslied und bemerkten aus der Entfernung nicht, dass die Melodie nur Tarnung war.

taz: Wie viele Liedsammlungen aus Buchenwald gibt es?

Oeser: Untersucht habe ich sieben Sammlungen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass weitere existierten. Drei der untersuchten Liedsammlungen haben deutsche Gefangene zwischen 1938 und 1945 erstellt. Vier weitere entstanden als „Kollektivschöpfungen“ zwischen 1943 und 1945. Federführend waren hier polnische Gefangene. Auch diese Sammlungen enthalten überwiegend Liedtexte, zudem Gedichte, Widmungen, Tagebucheinträge, Aquarelle und Fotos. Zudem überliefern sie die – im Zuge meines Projekts erstmals vollständig rekonstruierte – musikalische Szene „Ein Südseetraum“, arrangiert von Józef Kopiński, der in Buchenwald viele Lieder und eine Oper komponierte.

taz: Diente der Gesang auch der Selbstvergewisserung?

Oeser: Durchaus. Gleich bei der Ankunft im Konzentrationslager wurden den Gefangenen alle Kennzeichnen ihrer Identität genommen – durch das Entfernen der Haare und der Kleidung. Was man ihnen nicht nehmen konnte, war ihre Bildung, ihre Erfahrungen und Werte. Durch das Singen ihrer Lieder vergewisserten sie sich ihrer kulturellen Identität.

taz: Aber warum wurden so aufwendige Hefte angelegt?

Oeser: Die Liedsammlungen erfüllten viele Funktionen. Sie wurden als Gesangbücher und Kompositionshefte genutzt. Für die Verfasser waren sie „Tagebücher in Liedern“. Eine Besonderheit sind die „Kollektivschöpfungen“, die einerseits eine Nähe zum Erinnerungsalbum aufweisen, andererseits als Lagerchroniken das künstlerische Leben für die Nachwelt dokumentieren.

taz: Wer waren die Liedsammler?

Foto: Foto Ehrhardt

Christine Oeser

38, Musik­wissenschaftlerin an der Uni Osnabrück, erhielt für ihre Dissertation zu „Liedsammlungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald“ den Promotionspreis 2024 der Gesellschaft für Musikforschung.

Oeser:Bei den hier untersuchten Liedsammlern handelte es sich um deutsche und polnische politische Gefangene. Zu den deutschen gehörten die Magdeburger Buchbinder Max Göhrmann, Willy Settner und Willly Jentsch. Bei den polnischen Liedsammlern handelte es sich um den Autor Edmund Polak, den Journalisten Wacław Czarnecki, den Schlosser Józef Pribula und den Bergbauingenieur Kazimierz Tymiński. Tymiński war leidenschaftlicher Pianist, der in seiner Autobiografie beschreibt, wie ihm die Musik half, das Lager zu überstehen: Für sein Akkordeonspiel verschaffte ihm ein Blockführer Lebensmittel und eine bessere Unterkunft. Zugleich war Tymiński in der Widerstandsorganisation der Gefangenen aktiv.

taz: Welche Rolle spielten die Liedsammler im Lager?

Oeser: Meine Recherchen legen nahe, dass es sich um privilegierte Häftlinge handelt. Die Liedsammler hatten einen politischen Hintergrund, etwa im polnischen Widerstand gegen die Besatzer oder in SPD und KPD. In Buchenwald fanden sie Kontakt zur Widerstandsorganisation der Gefangenen – dem illegalen Lagerkomitee.

taz: Wo konnte man im KZ gefahrlos singen?

Oeser:„Harmlose“ Lieder sangen die Häftlinge in ihren Unterkünften. Und dann gab es Orte, die sowohl den Gefangenen als auch der SS nur begrenzt zugänglich waren, wie den Häftlingskrankenbau, das Krematorium und die Pathologie. An diesen vor Entdeckung relativ sicheren Orten wurden verbotene „politische“ Lieder gesungen.

„Die Sammler hatten einen politischen Hintergrund, etwa im polnischen Widerstand“

taz: Und Sie haben die Buchenwalder Liedsammlungen erstmals erforscht?

Oeser: Es gab immer wieder Forscher:innen, die deren Bedeutung erkannt haben. Etwa die Berliner Volksliedforscherin Inge Lammel, die etliche Liedsammlungen aus Sachsenhausen zusammentrug. Im Zuge der Geschichtsschreibung der DDR wurden sie jedoch recht einseitig dargestellt und vor allem der politische Charakter in den Blick genommen. Daneben wurden KZ-Liedsammlungen in einigen musikgeschichtlichen Untersuchungen erwähnt. Mein Ziel war es nun, die Sammlungen als eigenständige Quellenform zu betrachten und einzuordnen. Diese Betrachtungsweise ist neu. Dafür habe ich einen innovativen Ansatz gewählt.

taz: Welchen?

Oeser: Ausgehend von einem quellenkritischen Ansatz, habe ich mich aus verschiedenen Perspektiven mit den Sammlungen befasst. Ein Schwerpunkt lag auf der Analyse aller Texte mittels computergestützter qualitativ strukturierender Inhaltsanalyse. Vers für Vers habe ich geschaut, von welchen Themen die Lieder handelten. Die so gefundenen Kategorien habe ich in ein Programm eingespeist, das einen Überblick bot – über die unterschiedliche Darstellung der Themen und inhaltliche Schwerpunkte. Die Themen habe ich auf Bezüge zum Lageralltag überprüft. Oft handelten die Lieder von Gefangenschaft, Krieg, harter Arbeit, Krankheit, Hunger und Tod oder von Sehnsucht, Liebe, Freundschaft.

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