Todesstrafe in Taiwan: Im Namen des Volkszorns
Das Verfassungsgericht beschränkt sich in seinem Urteil auf verfahrenstechnische Nachjustierungen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für die Höchststrafe.
Taipeh taz | Fast eine halbe Stunde sprach Verfassungsgerichtspräsident Hsu Tzong-Li, als er das in Taiwan lang erwartete Urteil zur Gesetzmäßigkeit der Todesstrafe bekanntgab. Doch schnell war klar, dass das Gericht nicht das staatlich diktierte Sterben beenden würde. Das Recht auf Leben solle bestmöglich geschützt werden, gab Hsu zu Protokoll. „Doch dieser Schutz ist nicht absolut.“
Bei schwersten Verbrechen, insbesondere Mord, solle weiterhin die Todesstrafe möglich sein. Das Gericht schraubte vor allem Verfahrensanforderungen hoch, etwa hin zu verpflichtenden Rechtsbeiständen und mündlichen Verhandlungen für Beschuldigte in der letzten Instanz.
Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen hatte die 37 in Taiwan rechtswirksam zum Tode Verurteilten bei ihrer Klage vor dem Verfassungsgericht unterstützt. Bei ihrer Pressekonferenz in Taipehs Regierungsviertel, nur wenige Hundert Meter vom Gericht entfernt, überwog die Enttäuschung.
Eine verpasste Chance nannte Lin Hsinyi, Vorsitzende der Allianz zur Abschaffung der Todesstrafe, das Urteil. „Das Verfassungsgericht hat nicht den Wandel in der Gesellschaft angeführt.“ In den letzten Jahrzehnten gaben Taiwans Gerichte wichtige Impulse für soziale Reformen, zuletzt im Zuge der Anerkennung der Ehe für alle. Trotz eines anderslautenden Ergebnisses einer Volksabstimmung ebnete das Verfassungsgericht 2017 der gleichgeschlechtlichen Ehe den Weg.
Sühne und Abschreckung
Dieses Mal scheute es wohl einen vergleichbaren Schritt. Laut Umfragen befürworten rund 80 Prozent der Bevölkerung in Taiwan die Todesstrafe. Das Gericht verwies in seiner Urteilsbegründung denn auch auf Sühne und drastische Abschreckung als gesellschaftliche Wertvorstellungen – obwohl es deren Wirksamkeit in der Praxis selbst infrage stellte.
Trotz deutlich weniger Hinrichtungen in den letzten Jahren gibt es in Taiwan laut Fachleuten keine nennenswerte Zunahme von Gewaltverbrechen. Meinungsumfragen zur Todesstrafe stehen wiederum wegen teils emotionalisierender Fragestellungen in der Kritik.
Dass das Verfassungsgericht durch Verfahrensanforderungen die Hürden für eine Anwendung der Todesstrafe erhöhen wolle, hält Lin Hsinyi für absurd. „Die Todesstrafe zu optimieren, ist ein sinnloses Unterfangen. Das Recht auf Leben muss absolut geschützt werden.“
Zivilrechtsorganisationen befürchten, dass das Verfassungsgericht die Todesstrafe durch ebendiese Optimierungslogik auf längere Zeit zementieren könnte. Zumindest würden aufgrund des Urteils jedoch Verfahren der derzeit zum Tode Verurteilten zum Teil neu aufgerollt werden.
Moratorium gefordert
Taiwans Regierung unter Präsident Lai Ching-te von der chinakritischen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) vermeidet eine klare Position zur Todesstrafe. Die größte Oppositionspartei Kuomintang (KMT) fordert dagegen regelmäßig eine entschlossenere Anwendung. Anfang des Jahres hatte die Partei der DPP im Präsidentschaftswahlkampf unter anderem vorgeworfen, Hinrichtungen von zum Tode Verurteilten zu verschleppen.
Unter der damaligen Präsidentin Tsai Ing-wen waren in acht Jahren nur zwei Todesurteile vollstreckt worden, das letzte Ende 2020. Der vorige Präsident Ma Ying-jeou von der KMT hatte dagegen 33 zum Tode Verurteilte hinrichten lassen.
Auch die DPP-Regierung hat jedoch formell keinen Hinrichtungsstopp verfügt. Solch ein Moratorium forderte nun Chiu E-ling, Direktorin von Amnesty International Taiwan. Das Urteil des Verfassungsgerichts dürfe nicht das Ende des Weges zur Abschaffung der Todesstrafe sein. Dass die DPP-Regierung diesen Schritt bald selbst gehen will, gilt indes als unwahrscheinlich. Im Parlament hatte die DPP zudem nach den Wahlen im Januar ihre Mehrheit verloren. Dort stellt die KMT die größte Fraktion.
Leser*innenkommentare
Miles Parker
Wie kann man als Bundesrepublikaner die Souveränität Taiwans verteidigen, wenn die Menschenwürde dort durch die Todesstrafe verletzt wird? Dieser Widerspruch scheint problematisch, doch die Realität ist komplexer. Taiwan bleibt trotz der Todesstrafe eine lebendige Demokratie und ein Symbol des Widerstands gegen autoritäre Regime.
Die internationale Unterstützung für Taiwan basiert nicht nur auf Sympathie für den „schwächeren Außenseiter“, sondern auf Prinzipien. Der Universalismus – die Gültigkeit von Werten wie Freiheit und Menschenrechten – ist die Basis, auf der Taiwan seine Souveränität verteidigt. Trotz innerer Widersprüche steht Taiwan für demokratische Werte, was die internationale Gemeinschaft moralisch verpflichtet, seine Souveränität zu unterstützen.
Hans - Friedrich Bär
@Miles Parker Im Prinzip ja . Ich beschäftige mich schon länger nicht mehr damit, ob und wieviele Todesurteile in den USA verhängt und vollstreckt werden. Ich fahre einfach nicht hin, weil es mir zu gefährlich ist Opfer eines Justizirrtums zu werden. Warum in Taiwan 80% der Bevölkerung für die Todesstrafe sind ? Wahrscheinlich denken alle 80%: ich bin unschuldig, mir kann doch nichts passieren.
Miles Parker
Wie kann man ein Taiwan als Demokratie überhaupt ernst nehmen, wenn es noch nicht mal die verächtliche Todesstrafe abschaffen will?
Jene Abschaffung wäre sicherlich ein symbolträchtiges und moralisches Zeichen sich wertebasiert von der autokratischen V.R. China noch weiter abzugrenzen - und zwar jenseits von Xis Imperialismus.
Hans - Friedrich Bär
An die Adresse der Gerechtigkeitsfanatiker kann man zur Todesstrafe nur immer dasselbe sagen. Es werden ausnahmslos immer Unschuldige bestraft: die hinterbliebenen Kinder, Ehepartner, Eltern, Geschwister. Sie müssen tragen, obwohl sie nichts getan haben.
Machiavelli
@Hans - Friedrich Bär Ich halte bei bestimmten Verbrechen - Hochverrat, Völkermord die Todesstrafe für die einzig richtige Strafe gerade in einer Demokratie.
Miles Parker
@Machiavelli Der Staat darf nicht töten.
Michael84
@Hans - Friedrich Bär Also müsste die Todesstrafe eigentlich nicht gegen den Täter gehen, sondern gegen seinen engsten Angehörigen?
Hans - Friedrich Bär
@Michael84 Nein, das wollte ich nicht sagen. Wenn jemand hingerichtet wird hat er ja immer/meistens Angehörige. Diese müssen dann die Trauer und den Verlust ertragen und ohne die hingerichtete Person, die in ihrem Leben als Angehörige eine große Bedeutung hatte leben. Das ist eine Strafe, obwohl sie gar nichts getan haben. Ich wollte sagen, es ist besser Vater / Mutter/ Kind im Gefängnis zu besuchen, als auf dem Friedhof. Verurteilte Personen mit kleineren Kindern dürfen die Kinder ja mit ins Gefägnis nehmen, damit die Bindung der Kinder zu Vater / Mutter nicht komplett gestört wird, was dem Kindeswohl ja sehr schaden würde.
Es gibt die Diskussion, ob die Todesstrafe grundsätzlich gerecht sein kann, weil sich immer wieder herausgestellt hat, dass eine unschuldige Person hingerichtet worden war. Das ist manchmal so. Die Hinterblieben werden aber immer ungerecht behandelt weil sie leiden müssen , obwohl sie gar nichts getan haben, oder wenn die Hinterbliebenen Kinder sind, noch gar nicht strafmündig waren.
Michael84
@Hans - Friedrich Bär Wenn die Strafe für einen Mord einen adäquaten Schmerz beim Täter verursachen soll, also ein Ausgleich ist, dann müsste der Täter zusehen müssen, wie sein engster Angehöriger oder Freund das erleiden muss.