Parlamentswahl in Frankreich: Was wäre, wenn?
Der rechtsextreme RN könnte stärkste Kraft werden. Setzt die Partei ihre Pläne um, wäre das eine Bedrohung für das französische Gesellschaftsmodell.
Im Verlauf seiner Wahlkampagne hat Bardella zwar mehrfach Abstriche gemacht, um den Vorwurf zu kontern, er plane als Premierminister eine verantwortungslose und ruinöse Politik. Allzu schockierende Forderungen seiner Bewegung, die im Voraus als verfassungswidrig kritisiert wurden, hat er revidiert. Aber vieles ist unklar geblieben.
Was also hat Frankreich zu erwarten, falls das RN die Regierungsverantwortung übernehmen und Bardella Regierungschef werden sollte? Der erst 28-Jährige hat ein paar „Dringlichkeitsmaßnahmen“ angekündigt, die einen ersten Eindruck davon vermitteln, in welche Richtung er das Land zu führen gedenkt. Als Erstes möchte er die aus seiner Sicht von „Gauchistes“ (Linksextremen) unterwanderten öffentlichen Fernseh- und Rundfunksender privatisieren. Dann will er in den staatlichen Schulen mit einem „Big Bang“, also einem Bündel von Maßnahmen wie der Einführung von Schuluniformen, die Autorität wiederherstellen. Außenpolitisch soll sich Frankreich Russland annähern und auf Distanz zur Ukraine und zur Nato gehen.
Keine Angaben macht Jordan Bardella dazu, wie er sein Versprechen halten will, die öffentlichen Ausgaben und die Zahl der Beamt*innen zu reduzieren. Frankreichs Diplomat*innen sorgen sich deshalb bereits um ihr Corps. Staatliche Subventionen würden vermutlich anders verteilt: Die Kulturwelt befürchtet, dass auf Kosten der Förderung von Künstler*innen Heimatschutz und Denkmalpflege bevorzugt werden könnten.
Besessen von Migration
Die Immigration ist und bleibt eine Obsession der extremen Rechten. Das Gesicht der Partei, Marine Le Pen, möchte den Migrationspakt der EU aufkündigen und eine „doppelte Grenzkontrolle“ einführen. Was viel über die rassistischen Hintergedanken aussagt, ist der ideologische Kernbegriff der „nationalen Präferenz“: Bei staatlichen Sozialgeldern, Familienzulagen, Stipendien, aber indirekt auch bei der Wohnungs- und Arbeitssuche soll die französische Staatsbürgerschaft zum Kriterium werden.
Die systematische Bevorzugung eines Teils der Bevölkerung zu Ungunsten eines anderen bedeutet in einem Land wie Frankreich, in dem Generationen von Eingewanderten und Menschen aus ehemaligen Kolonien integriert wurden, eine Diskriminierung, die den Grundwerten der Republik diametral widerspricht. Wenn eine RN-Regierung ihre Pläne einmal umzusetzen beginnen sollte, wären Diskriminierungen aufgrund der Herkunft, Hautfarbe oder Religion schnell nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Eine rechtsextreme Staatsführung würde auch die Programme stoppen, mit denen bisher sozial benachteiligten Jugendlichen mit Migrationsgeschichte der Zugang zu Eliteschulen erleichtert wurde.
Beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft, die der RN infrage stellt, wird deutlich, dass es für die extreme Rechte zwei Sorten von Franzosen und Französinnen gibt: die „Echten“, die Français de souche (von der Abstammung her), und die „Papierfranzosen“, Eingebürgerte ausländischer Herkunft. Mehrere Kandidat*innen, darunter RN-Vize Sébastien Chénu, sagten, dass sie in der doppelten Staatsbürgerschaft ein Loyalitäts- und Sicherheitsproblem sähen. Parteichef Jordan Bardella etwa glaubt, es wäre riskant, wenn gewisse Menschen mit zwei Pässen strategisch wichtige Posten bekämen. Sein pikantes Beispiel: ein französisch-russischer Bürger als Direktor eines Atomkraftwerks. Andere Parteimitglieder wollen Mitbürger*innen mit zwei Nationalitäten den Zugang zu Minister*innenposten und anderen Ämtern gleich ganz untersagen.
Die Staatsbürgerschaft soll nach Ansicht des RN ohnehin nicht mehr wie seit Jahrhunderten in Frankreich mit dem „jus soli“ aufgrund der Geburt erlangt werden, sondern nur noch dank der Abstammung von französischen Eltern. Einbürgerungen soll es nur geben, wenn sie „verdient“ sind. Das alles würde zweifellos die Integration erschweren und die Bevölkerung zusätzlich spalten. Die anderen politischen Parteien, die sich zuletzt zu einer Abwehrfront zusammengeschlossen haben, sehen darin einen Angriff auf das französische Gesellschaftsmodell.
Bereit zum Bürgerkrieg?
Als RN-Premierminister hätte Jordan Bardella allerdings nur eine beschränkte Handlungsfreiheit. Er muss mit dem Staatspräsidenten koexistieren, der über seine Exklusivrechte wachen wird. Als Gegenmacht bleiben zudem der Senat mit seiner konservativen Mehrheit, das Verfassungsgericht und auch die EU. Die kann nicht bloß wegen der Staatsfinanzen mit Sanktionen drohen, sie würde auch Maßnahmen ablehnen, die den europäischen Verträgen, Direktiven und einstimmigen Vereinbarungen widersprechen – beispielsweise die vom RN geforderte Senkung der französischen Beitragszahlungen.
Innenpolitisch braut sich viel Konfliktpotenzial zusammen. Gewerkschaften und linke „Antifaschisten“ drohen bereits mit Demonstrationen, Streiks und Widerstandsaktionen, die zu gewaltsamen Konfrontationen führen könnten. Präsident Macron hatte im Vorfeld der Wahlen vor einem „Bürgerkriegsrisiko“ gewarnt.
Muss man gar einen Putsch befürchten, falls sich eine rechtsextreme Regierung wegen der Einspruchsmöglichkeiten des Präsidenten und der anderen Institutionen nicht durchsetzen kann? Darüber wird in Frankreich in diesen Tagen diskutiert. Der liberale Publizist Nicolas Baverez warnt: „In jedem der beiden Fälle – bei einer absoluten oder fast absoluten RN-Mehrheit oder mit einer unregierbaren Parlamentskammer – kippt Frankreich ins Unbekannte und in eine Ära sehr hoher Risiken.“
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