Ornament der Hoffnung

„No Time to Dance“: Das Georg Kolbe Museum in Berlin zeigt eine Retrospektive der Tänzerin und Künstlerin Noa Eshkol aus Israel

Von Katrin Bettina Müller

Nichts geht ohne den Atem. Einatmen, ausatmen. Zwölf Atemübungen hat Ayumi Paul auf eine Wand des Georg Kolbe Museums in Berlin geschrieben. „breathing in breathing out / until the heart feels light“. „breathing in breathing out / until somewhere else a dream comes true“. Dazu gehören zwölf Schemel aus einem einzigen Stück Birnenholz, die Besucher der Ausstellung nutzen und ihre Position verändern können.

Ayumi Paul ist Violinistin und Künstlerin. Ihre Arbeit „Forms of Breath“ verbindet Raum und Bewegung und setzt behutsam die Vorstellungskraft in Gang. Sie entstand als Hommage an Noa Eshkol, eine Tänzerin, Choreografin und bildende Künstlerin aus Israel. Deren Werk widmet das Georg Kolbe Museum eine Retrospektive, die zugleich das Netz ihrer Partner in der Kunst und Wissenschaft aufgreift und ihre Bedeutung für Künst­le­r:in­nen der Gegenwart thematisiert.

Noa Eshkol, 1924 im Kibbutz Degania B geboren, starb 2007. In diesem Jahr entstand ihr letztes textiles Bild, das mit anderen im großen Ateliersaal des Kolbe-Museums auf dem Boden liegt. Es ist nur mit Stecknadeln gesteckt, zum Nähen kam sie nicht mehr. Stoffstreifen mit Blumen und mit abstrakten Mustern bilden nebeneinanderliegende Ströme, gekreuzt von gitterähnlichen Strukturen.

Ihre Stoffbilder sind leuchtend, farbenprächtig, großformatig. Auch wenn viele Formen abstrakt sind, lassen sich doch landschaftliche Elemente in ihnen lesen. Die Wüste und Vögel tauchen in den Titeln auf, das Meer und die Jahreszeiten, aber auch ein arabisches Dorf und ein Dorf in der Ukraine. Weite ist spürbar. Oft treiben Keile über geometrisch geordnete Stoffstücke, Bewegungen wie Wellen und Wind, das Aufblühen und Zur-Ruhe-Kommen lassen sich finden.

Alles stammt aus Fundstücken, kein Stoff wurde gerissen oder geschnitten, das war Noa Eshkol wichtig. Ihre an Ornamenten reichen Teppichbilder atmen etwas Frühlingshaftes und Hoffnungsvolles. Und doch war der Ursprung dieser textilen Collagen ein Krieg, der Jom-Kippur-Krieg, der am 6. Oktober 1973 mit einem Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel begonnen hatte.

Die Reduktion in ihrer Ästhetik könnte vergessen lassen, wie sehr ihre Arbeit in der Geschichte Israels wurzelt

Der Titel der Retrospektive „No Time to Dance“ verweist auf diesen Einschnitt in Noa Eshkols Arbeit. Seit den frühen fünfziger Jahren war sie vor allem Tänzerin gewesen, hatte ein eigenes Ensemble, die Chamber Dance Group, unterrichtete und arbeitete an der Entwicklung einer Notation, um Bewegungen festzuhalten und zu analysieren.

Aber dann begann der Jom-Kippur-Krieg, einer ihrer Tänzer wurde eingezogen, und Noa Eshkol entschied, jetzt sei „No Time to Dance“. In dieser Zeit begann sie mit den Teppichen, ihre Tänzer und andere brachten ihr Stoffreste. Die Arbeit daran über viele Jahrzehnte hinweg wird als eine Obsession und Leidenschaft beschrieben.

Dass sie Bestehendes nutzte und zu etwas Neuem zusammenfügte, das ist das Bindeglied zu ihren Arbeiten als Tänzerin: Bewegungen beobachten und neu kombinieren. Ihre Choreografien, oft kurze Tänze von zwei oder drei Minuten, allein zum Takt eines Metronoms ausgeführt, haben etwas von meditativen Übungen. Die Schrittfolgen sind kurz, viele Wiederholungen mit kleinen Varianten. Die Titel wie „Warrior“, „Small Birds in Trees“, „The Four Seasons“ verweisen durchaus auf die Welt der Erfahrungen und sinnlichen Wahrnehmungen. Die Tänze aber nehmen sich mit ihrem reduzierten Bewegungsmaterial wie Übungen der Konzentration und Beobachtung aus.

Sie behandelte in ihnen die verschiedenen Glieder wie Unterarme oder Oberschenkel als separate Instrumente, für die sie jeweils eigene Regeln der Bewegung festhielt. Sie nutzte Kompositionsformen wie den Kanon oder die Fuge, um mit den Körperteilen polyfone Bewegungen zu komponieren. In der grafischen Umsetzung, an der sie unter anderem mit dem Architekten (und ihrem Ehemann) Abraham Wachmann arbeitete, entstanden dabei Figuren, die Rotationen in Scheiben- und Trichterformen übersetzen.

Diese Schemata zur Verdeutlichung des körperlichen Apparates und seiner Möglichkeiten erinnern visuell an die Bauhaus-Moderne, etwa die Figuren von Oskar Schlemmer. Und sie gehören zu dem ästhetischen Material, das Künst­le­r:in­nen der Gegenwart wiederum nutzen, wenn sie sich auf Eshkol beziehen. Die Wege zwischen Fläche und Raum, Bewegung und Skulptur in Eshkols Arbeiten machen Noa Eshkol auch so interessant für das Kolbe-Museum, das schon mehrfach die Beziehungen zwischen Skulptur und Tanz aufgegriffen hat.

Bewegungen im Raum: Noa Eshkol und ihr Ensemble bei einem Auftritt in Tel Aviv Foto: T. Brauner/The Noa Eshkol Foundation for Movement Notation, Holon, Israel

Die Abstraktion und Reduktion in ihrer Ästhetik können auf den ersten Blick vergessen lassen, wie sehr ihre Arbeit in der jüdischen und der Geschichte Israels verwurzelt ist. Da ist die Verbundenheit mit der Landschaft in den Teppichen. Da war ihre Lehrerin Tile Rössler, die zuerst an der Palucca-Schule in Dresden gelehrt hatte, aber, als ihr auf Grund ihrer jüdischen Herkunft gekündigt wurde, nach Isreal ging und 1933 eine Schule in Tel Aviv eröffnete. Vor allem aber ist da eine Choreografie, die Noa Eshkol 1953 zum zehnjährigen Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto entwickelte, von der man in einer Filmauszeichnung Ausschnitte sehen kann.

Vor einem alten Viadukt tanzen große Gruppen auf verschiedenen Bühnen in dichten Formationen. Yael Bartana und Omer Krieger haben diese Massenchoreografie und Trauerarbeit in Performances und Videos aufgegriffen. Bei Bartana führt ein Zug, von jungen Menschen, der teils an Demonstrationen, teils an Prozessionen erinnert, zu einem Militärfriedhof. Die Stimmung ist aufgeladen, die Formationen der Körper sind dicht, alle tragen Gewehre; Angst, Gefahr und Trauer sind greifbar. „Begrabt unsere Waffen, nicht unsere Körper“, haben sie als Slogan dabei.

Noa Eshkols Arbeit wurzelte in einem Glauben an die „Gemeinschaft der Völker“. Das betonte sie 1974 in einem Vorwort zu einem Buch mit Notationen zu „Arab and Israeli Folk Dance“. Ihre Kunst enthält ein heute wieder utopisch scheinendes Moment „vom friedlichen Zusammenleben der beiden Völker in Israel“ fest, wie sie in diesem Vorwort schreibt. Das macht die Retrospektive so spannend, die damit weit über den Anlass des hundertsten Geburtstages hinausgeht.

Noa Eshkol: No Time to Dance, Georg Kolbe Museum Berlin, bis 25. 8. 2024