Von Gänsen und Menschen

Was wurde eigentlich aus dem Aggressions­trieb? Über den einst weltberühmten, dann hochumstrittenen Verhaltensbiologen Konrad Lorenz hat Ilona Jerger einen kritischen Roman geschrieben

„Gänse sind auch nur Menschen“: Lorenz an der Donau mit Artgenossen Foto: Göbel/picture-alliance

Von Josef Reichholf

Kein Untertitel. Keine Erläuterung. Nur Lorenz. Am linken Rand des Umschlagbildes geht eine Person in Gummistiefeln. Sechs Gänse folgen ihr. Klar: „Der Lorenz“ ist gemeint, der 1973 den Nobelpreis erhielt. Damals sagte „Lorenz“ alles. Er war die Ikone der Biologie in den 1970er und 1980er Jahren. Wie vergänglich ist doch der Ruhm! Selbst Studierende der Biologie kennen gegenwärtig kaum noch etwas von Konrad Lorenz.

Mit seinem Tode am 27. Februar 1989 verblasste seine Wissenschaft, das vergleichende Studium des Tierverhaltens. Sie verkroch sich in modernere, wissenschaftlicher klingende Nischen experimentell physiologischer und neurologischer Forschung. Die Max-Planck-Gesellschaft wickelte die von ihr geförderte Verhaltensforschung ab. Sie formte Teile davon um in hochmoderne Institutionen, wie die Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und das Max-Planck-Institut für Ornithologie. Kleine und feine Nachfolgeinstitutionen etablierte Österreich für den nach seiner Pensionierung heimgekehrten Nobelpreisträger.

Viel wurde über Konrad Lorenz geschrieben. Viel Huldigendes, solange er lebte, etwa das Buch „Zum Sehen geboren“ seines Schülers Antal Festetics. Kritiker schlugen umso heftiger zu. ­Lorenz hatte deren viele. Sie durchsuchten, was sich im Schatten der Lichtgestalt verbarg. Lorenz gab genug Anlässe zu massiver Kritik. Vor allem mit dreien seiner Bücher: „Das sogenannte Böse“, „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ und „Der Abbau des Menschlichen“. Mehr als seine eigentliche Verhaltensforschung an Gänsen und Dohlen, am Hund und vielen anderen Tieren charakterisieren diese seine Denkweise, auch sein Engagement als Naturschützer und Gesellschaftskritiker.

„Das sogenannte Böse“ wurde nach Erscheinen (1963) sogleich heftig verrissen, geriet aber schon vor Lorenz’Tod in Vergessenheit. Gegenwärtig wird „Die Rückseite des Spiegels“ als sein bekanntestes Werk in Informationen für den Schulunterricht aufgeführt. Und betont, dass Lorenz entlarvt worden sei, überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein.

Mit „Lorenz“ ging Ilona Jerger das Wagnis ein, sich mit Zeitzeugen anzulegen, die ihn erlebt oder mit ihm noch zusammengearbeitet haben. Als ein solcher las ich in steter Widerspruchsbereitschaft, hatte mich der Nobelpreisträger doch tief beeindruckt, als wir in den 1970er Jahren in der „Gruppe Ökologie“ zusammen aktiv waren, und auch später bei Gesprächen vor seinem Riesenaquarium in Altenberg an der Donau, dem Familiensitz.

Als sich sein Ruhm in den 1960er und 1970er Jahren aufbaute, bekamen wir von seiner Jugendzeit nicht mehr mit als aus seinen Bestsellern „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ und „So kam der Mensch auf den Hund“ herauszulesen war. Höchst reizvolle Tiergeschichten sind dies. Sprüche wie „Gänse sind auch nur Menschen“ oder „Putzgespräche“ als Ausdruck für belangloses Plaudern machten bei uns die Runde. Dank des „sogenannten Bösen“ wussten wir, dass die Aggression angeborenermaßen im Menschen steckt. Um Schlimmes zu verhindern, muss sie immer wieder umgelenkt werden auf tolerable Bahnen, „um Dampf abzulassen“, wie es der Meister ausdrückte. Wie das geht, sehen wir bei Fußballspielen und anderen Sportereignissen im Fernsehen, so als wollten Hooligans die Lorenz’sche Sicht bestätigen.

Mit wachsender Spannung las und las ich „Lorenz“, hin- und hergerissen von der Frage, was Ilona Jerger erfunden hatte und was den biografischen Fakten entspricht. Den Verlauf seiner Kriegsgefangenschaft verwies ich in die Sphäre des Romans, weil sie mir zu geschönt schien. Manches aus der Zeit davor wirkte wie Ausbrüche seiner jugendlichen Sturm-und-Drang-Jahre im Schatten des Vaters, der als höchst angesehener Mediziner selbst nobelpreis­verdächtig war. Und die in Amerika und England entwickelte „Eugenik“, die Rassenhygiene, vehement vertrat.

Das heimatliche Österreich litt unter seiner Schrumpfung zum Zwergstaat nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, den es ausgelöst hatte. Viele sahen nun im Österreicher, der in Deutschland an die Macht gekommen war, das neue Heil. Der junge Konrad frönte indes seiner Motorradleidenschaft. Er nahm damit seine späteren Deutungen des provozierenden Verhaltens junger Männer vorweg. Imponiergehabe nannte er es. Sein enger Mitarbeiter Irenäus Eibl-­Eibesfeldt dokumentierte dieses und anderes Verhalten von Menschen in vielen Filmen. Er veröffentlichte Verhaltensforschung am Menschen in einem großen, auch ins Englische übersetzten Lehrbuch. Andere seines Kreises taten sich hervor mit publikumswirksamen Büchern wie Thomas Schulze-Westrum mit „Die Biologie des Friedens“ und Wolfgang Wickler mit „Die Biologie der zehn Gebote“. Mit und an Lorenz kristallisierte sich ab den 1960er Jahren eine neue, biologisch orientierte Forschung am Menschen.

Alles hätte so wunderbar weiterlaufen können. Doch Lorenz schleppte eine Altlast mit sich. Dokumentiert ist sie in seinen am 28. Juni 1938 gestellten Antrag zur Aufnahme in die NSDAP: „Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist und aus weltanschaulichen Gründen erbitterter Feind des schwarzen Regimes … und hatte wegen dieser … Schwierigkeiten mit der Erlangung der Dozentur.“ Eine solche bekam er, und was für eine! Den Lehrstuhl Kants in Königsberg. Konrad Lorenz nutzte die Gunst der Zeit, in der sehr viele Wissenschaftler Positionen erlangten, die Vertreibung und Flucht vakant gemacht hatten.

Ilona Jerger: „Zu behaupten, dass Lorenz nur wegen seiner Linientreue dieses besondere Ordinariat bekommen hat, wäre falsch. Wahr ist, dass Lorenz den Lehrstuhl ohne seine ideologischen Vorleistungen nicht bekommen hätte.“ Sie urteilt und verurteilt. Doch wie alle Sichtweisen ist ihre in romanhafter Verkleidung ausgebreitete Lorenz-Biografie dem Zeitgeist unterworfen. Was manches Urteil verständlich macht. Etwa bei der Kritik des Aggressionstriebs. Zu ihrem Verdikt zieht sie das Sevilla Statement on Violence heran, das 20 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen 1986 proklamiert hatten: Es gibt keinen Aggressionstrieb. Kein angeborenes Böses.

Doch ist so ein Streit um Begriffe nicht Verkennung von Naturwissenschaft, in der nicht nach Mehrheiten entschieden wird? Worum handelt es sich dann bei der Aggression? Fällt sie vom Himmel? Wie sollen wir sie benennen? Man denke an den Geschlechtstrieb. Gibt es diesen auch nicht? Welch bessere Erklärung der Aggression liegt vor? Das bleibt offen.

Die Menschheit hielt sich ohnehin nicht an das Manifest von Sevilla. Zwar ging das „Gleichgewicht des Schreckens“ zu Ende, denn die wirtschaftliche Dominanz des Westens hatte die Sowjetunion in den Ruin und China auf Reformkurs getrieben. Alles schien sich nun zum Guten zu wenden, als in jenem legendären Jahr 1990 in Deutschland zusammenkam, was zusammengehörte. Das „sogenannte Böse“ mochte auf dem Abfallhaufen der Geschichte landen.

Lorenz schleppte eine Altlast mit sich, seinen Antrag zur Aufnahme in die NSDAP

Doch alsbald feierte die Aggression grimmig Urständ. Krieg folgte auf Krieg. Auf dem Balkan, im Vorderen Orient, in Afrika, in Osteuropa. Ein dritter Weltkrieg droht. Woher das Böse? Alles nur Werk weniger schlimmer Menschen? Welche Quelle nährt es? Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Aggression steckt im Menschen. Und die Bereitschaft dazu, sich parteiisch für eine Seite zu engagieren. Ohne Wenn und Aber, ohne zu differenzieren. Besser weiß man es erst hinterher, falls jemals. Denn über die Sichtweise entscheiden die Sieger. Wie wird in weiteren 50 Jahren über unsere heutige Zeit geurteilt werden? Wissen wir alles wieder mal besser? Im Naturschutz wird ein Vokabular wie im Nationalsozialismus verwendet. Böse sind „die Fremden“ (Arten/Rassen), die eindringen, infiltrieren, metastasieren wie Krebsgeschwüre, die Heimisches unterwandern und verfremden. Überall sollte ausgemerzt, zumindest mit allen Mitteln bekämpft werden. Warum findet all dies so automatisch emotionale Zustimmung?

Anders als in ihrem Erfolgsroman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ (2018), in dem das Treffen der Ikonen von Evolutionsbiologie und Sozialismus rein fiktiv verläuft und ihr damit die Möglichkeit bietet, zentrale Ideen herauszuarbeiten und in den Zeitbezug zu stellen, bleibt in „Lorenz“ das Romanhafte Beiwerk. Die kritische Sicht dominiert. Damit liegt das Buch voll im Trend unserer Zeit der „Aufarbeitung der Geschichte“. Konrad Lorenz’ Wiener Vorläufer und noch fast Kollege Sigmund Freud hätte diese Neigung als Äußerung des „Todestriebs“ gewertet.

Der Naturschützer Lorenz würde die Bedrohung durch den Klimawandel als Bestätigung seiner „Acht Todsünden“ empfinden. Zeitmuster wiederholen sich. Die Pendel schwingen stets von Extrem zu Extrem. Die Mitte lässt sich nicht halten. Wer wird beim Urteilen wem wirklich gerecht? Kann man auf „die Biologie“ beim Ringen um Lösungen für ein friedlicheres Miteinander verzichten? „Lorenz“ regt an, auch über unsere Zeit nach- und darüber hinaus zu denken. Lösungen bietet das Buch nicht. Aber eine ergreifende Lektüre.

Ilona Jerger: „Lorenz“. Piper, München 2023, 336 Seiten, 24 Euro