Eine Recherche und ihre Inszenierung

Correctiv führte am Mittwoch im Berliner Ensemble die viel diskutierte Recherche zum „Geheimtreffen“ von Rechten als szenische Lesung auf

Veit Schubert, Max Gindorf, Constanze Becker, Oliver Kraushaar und Andreas Beck spielen das Potsdamer Treffen Foto: Carsten Koall/dpa

Von Jens Winter

„Welche Verstärkung für Religion und Gesetze, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten“, schrieb Friedrich Schiller in seiner Theorie über ein politisch wirkendes Theater. Wie diese Theorie praktisch aussehen kann, war am Mittwoch in der szenischen Lesung „Correctiv enthüllt“ am Berliner Ensemble spürbar. Man stiftete ein politisches Kollektiv.

Gleichzeitig zu den 170 Zuschauern im Theater verfolgten mehr als 19.000 Menschen die Theaterperformance über Livestream. Den hatte das BE zusammen mit dem Volkstheater Wien und der Onlineplattform www.nachtkritik.de angeboten.

Dass die Resonanz so groß war, lag wohl auch daran, dass sich über 40 Theater, Opernhäuser, Festivals und Kultureinrichtungen aus ganz Deutschland an dem Stream beteiligten. Sie verbreiteten ihn über ihre Kanäle oder machten ihn über ihre Website zugänglich. Theater in Bochum, Dresden, Hannover, Rostock und Oberhausen boten zudem ein Public Viewing an. So geschlossen zeigte sich Kulturszene schon sehr lange nicht mehr.

Eine Woche zuvor hatte das Investigativkollektiv Correctiv eine Recherche über ein Treffen völkischer Politiker, Aktivisten, Privatpersonen und Unternehmer veröffentlicht. Das Treffen hatte am 25. November in einer Potsdamer Villa stattgefunden. Dort sei unter anderem ein „Masterplan“ besprochen worden, der die millio­nenfache Ausweisung von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland vorsehe. Auch von Personen, die einen deutschen Pass haben, und auch mittels „Druck“, wie es dort geheißen haben soll.

Auf dem Treffen wurde das als „Remigration“ gelabelt, ein beschönigender Kampfbegriff, den Rechte schon lange verwenden. Bei dem Treffen waren auch ranghohe AfD-Politiker anwesend. Die Enthüllungen hatten große Wellen geschlagen.

Natürlich hatte man sich schon vorher denken können, dass es solche Treffen gibt, und von „Remigration“ sprechen die Rechten seit Jahren. Auch, dass ranghohe AfD-Politiker völkisch eingestellt sind und von massenhaften Ausweisungen träumen, ist nichts Neues.

Man fragte sich also, was das soll: Der große Knall, die investigative Enthüllung eines „Geheimplans“. Noch dazu veröffentlicht auf der Website des Kollektivs in Form eines Dramas, mit Prolog, Akten und Epilog. Versehen mit einer Aktenzeichen-XY-Ästhetik, die dieses Treffen noch geheimnisvoller erscheinen lässt.

Unter Leitung von Regisseur Kay Voges, Leiter des Wiener Volkstheaters, hatte das Berliner Ensemble eine szenische Lesung zur Recherche angekündigt. Darin sollten auch „neue Details“ veröffentlicht werden. Aber warum in der Form einer szenischen Lesung? Und welche neuen Details? Weshalb hat man diese nicht gleich veröffentlichen können? Warum also das – sprichwörtliche – Theater?

Im Gespräch mit der taz sagte der Journalist und Aktivist Jean Peters, der an der Recherche beteiligt ist und am Stück mitschrieb: „Die Menschen sollen gemeinsam eine Erfahrung machen. Deshalb wollen wir die Recherche ins Theater bringen.“ Als man das Stück gesehen hatte, verstand man, was er im Sinn gehabt hatte. Danach gab es minutenlang stehende Ovatio­nen. Leute im Saal riefen: „Alle zusammen gegen den Faschismus.“ Es herrschte Einigkeit.

Die neuen Details, die veröffentlicht wurden, waren darüber fast ein wenig egal. (Siehe dazu den Artikel im Inland in dieser Ausgabe.)

19.000 sahen zu. Die Kulturszene zeigte sich einig wie schon lange nicht mehr

Während der Vorstellung saßen die Darsteller um eine festliche Tafel. In verteilten Rollen spielten sie die angeblichen Geschehnisse in Potsdam nach. Im Hintergrund zeigte man Fotos der Teilnehmer des Treffens, erzählte deren Lebensgeschichte und zeigte auch Fotos des Hotels und des Tagungsraums. Auf der Bühne verrenkten sich die Schauspieler sprachlich immer wieder – möglicherweise um drohenden Klagen der AfD und ihres Umfelds vorzubeugen. Sagte zum Beispiel derjenige Darsteller etwas, der an Mario Müller, Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten, angelehnt ist, wurde erst drei Mal hintereinander gesagt, die Person hieße „Nicht-Mario-Müller“. Dann hieß es irgendwann doch, es werde Mario Müller dargestellt. Im Grunde war die Person damit beides und niemand zugleich. Derart zur Kunstfigur erhoben, konnte sie alles sagen, was nach Correctiv-Recherche auch der echte Mario Müller in Potsdam gesagt haben könnte. Sicher war man sich als Zuschauer nicht mehr: Sprechen die Figuren den in Potsdam gesprochenen Text nach oder wird hier dramatisch zugespitzt?

Es war ein Balanceakt, wohl nicht nur auf Messers Schneide der Kunstfreiheit, wie es im Stück immer wieder ironisiert wurde, sondern auch auf Messers Schneide der journalistischen Sorgfaltspflicht. Denn woher hat Correctiv die hier vermittelten Informationen? Im Stück selbst wurde auf einen möglichen Informanten verwiesen. Aber sind die „Gedächtnisprotokolle“ auch im Detail akkurat?

Das Magazin Cicero hat mit Verweis auf einen Teilnehmer des Treffens Teile der Recherche von Correctiv mittlerweile in Zweifel gezogen. Ob manches so gesagt wurde wie berichtet, wird in Frage gestellt. Die Absicht der Correctiv-Recherche scheint indes offenkundig: In dem zeitgleich zum Stück veröffentlichen neuen Artikel auf ihrer Website ist von einem „Verbotsverfahren“ gegen die AfD die Rede. Am Mittwochabend konnte man im Berliner Ensemble sehen, wie man für diese Forderung eine breite Masse an Menschen erreichen und elektrisieren kann. Die Selbstinszenierung von Correctiv als James-Bond-mäßige Agenten, die mit kamerabestückten Uhren Geheimtreffen von Rechtsextremisten und deren Unterstützern auffliegen lassen, kam gut an.