Armut in Ostdeutschland: „Ich muss jeden Cent umdrehen“

Seit Monaten leiden Menschen mit wenig Einkommen unter den hohen Preisen. Besonders hart trifft es Ostdeutschland, wo Löhne und Renten niedriger sind.

Ältere Frau schaut sich warme Jacken bei der Tafel in Pirna an

Hilfe bei der Tafel: Wenn das Geld nicht mehr für eine warme Jacke reicht Foto: imago

LEIPZIG taz | Seit Monaten kämpfen einkommensschwache Menschen mit hohen Preisen für Energie und Lebensmittel. Um über die Runden zu kommen, müssen sie sich noch mehr einschränken als schon vor der Krise. Ausflüge mit den Kindern oder ein Besuch im Kino? Für viele ist das nicht mehr möglich. Eine schnelle Besserung ist nicht in Sicht – ganz im Gegenteil. Zwar ist die Inflationsrate im April und Mai leicht gesunken und mit rund 6 Prozent so niedrig wie seit August 2022 nicht mehr. Doch nur weil die Inflationsrate sinkt, heißt das noch lange nicht, dass der Einkauf im Supermarkt oder der Besuch im Schwimmbad oder im Kino günstiger wird.

Eine sinkende Inflationsrate bedeutet lediglich, dass die Preise langsamer steigen. Und diese verlangsamte Steigerung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Preise im Vergleichsmonat April 2022 aufgrund des russischen Angriffskrieges schon ziemlich hoch waren. Auf die hohe Teuerung von damals kommt also noch etwas obendrauf. Für 2023 wird eine Inflationsrate von knapp sechs Prozent erwartet. Die Not einkommensärmerer Menschen dürfte sich in den kommenden Monaten daher noch vergrößern.

Besonders von der Inflation betroffen ist der Osten von Deutschland. Denn hier sind die Löhne und Renten mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung immer noch niedriger als in westdeutschen Bundesländern. Was bedeuten die seit Monaten hohen Lebenshaltungskosten für einkommensschwache Menschen dort?

Schon vor der Krise waren in Ostdeutschland deutlich mehr Menschen von Armut betroffen als in Westdeutschland. 2021 lag die Armutsquote im Osten des Landes bei 18 Prozent, im Westen bei 16,7 Prozent. Das geht aus dem aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervor. Als arm gelten Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in Deutschland zur Verfügung haben. Für eine alleinstehende Person lag diese Grenze 2021 bei 1.145 Euro im Monat. Verlässliche Zahlen für 2022 gibt es noch nicht.

Kinder haben Hunger, sind teilweise verwahrlost

Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der hohen Inflation damit, dass sich die Lage in Ostdeutschland weiter verschärft. Hört man sich bei ostdeutschen Landesverbänden des Paritätischen und bei regionalen Caritasverbänden um, bestätigt sich diese Vermutung.

„Wir hören durch unsere Mitarbeitenden in Kitas und Horten, dass Kinder teilweise verwahrlost und hungrig in die Einrichtungen kommen“, teilt etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband Sachsen-Anhalt mit. Darüber hinaus sei der Andrang bei den Tafeln gestiegen. „Die Angebote der Tafeln sind für viele Menschen im Zuge der Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie existenzsichernd geworden.“

Die Caritas Magdeburg berichtet, dass die Wärmestube im sachsen-anhaltischen Halberstadt seit Herbst 2022 „einen stetigen Anstieg“ an Be­su­che­r:in­nen verzeichne. Hier bekommen Menschen eine warme Mahlzeit oder eine Tasche mit Lebensmitteln für zu Hause. Im Mai habe die Zahl der Bedürftigen noch mal „deutlich“ zugenommen. In Thüringen ist die Situation ähnlich. Auch hier nehmen deutlich mehr Menschen die Hilfe der Tafeln wahr, insbesondere Alleinerziehende und Rentner:innen, wie Peer Lück vom Paritätischen in Thüringen bestätigt. Gleichzeitig verzeichneten die Schuldnerberatungen des Verbandes einen Anstieg an Klient:innen.

Schuldnerberatungen der Caritas in Sachsen registrieren ebenfalls mehr Hilfesuchende. „Zu uns in die Schuld­ne­r:in­nen­be­ra­tung kommen zehn bis 15 Prozent mehr Hilfesuchende als vor der Krise“, sagt Gerlinde Köhmstedt, Leiterin des Caritas-Beratungszentrums in Dresden. Hauptgrund für die erhöhte Anzahl an Hilfesuchenden sei die stark gestiegene Inflation. „Viele können die hohe Nachzahlung der Nebenkostenabrechnung für 2022 nicht bezahlen und suchen Hilfe bei uns“, sagt Köhmstedt. „Unsere Kli­en­t:in­nen haben keine finanziellen Rücklagen, kaum jemand hat finanzstarke Verwandte oder Freunde, die ihnen Geld leihen könnten.“

Hohe Lebensmittelpreise sorgen für Verzweiflung

Neben den hohen Energiekosten sorgen aktuell vor allem die Lebensmittelpreise für Verzweiflung. Im April stiegen sie im Vergleich zum Vorjahresmonat mit 17,2 Prozent erneut überdurchschnittlich. Brot und Getreideerzeugnisse kosteten 21 Prozent mehr als im April 2022, Margarine 37 Prozent, Käse und Quark knapp 40 Prozent.

Spricht man mit Menschen in Leipzigs größter Plattenbausiedlung Grünau über die Preise in den Supermärkten, zeigt sich, wie dramatisch die Lage ist. „Ich habe große Probleme, bis zum Monatsende mit dem Geld auszukommen“, sagt ein 77 Jahre alter Mann, der in einer 1-Zimmer-Wohnung in Grünau wohnt und knapp 800 Euro Rente bekommt. „Spätestens ab Mitte des Monats muss ich mich stark einschränken, dann verzichte ich zum Beispiel auf Brötchen.“

Eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern erzählt, dass sie „kaum noch Fleisch“ kaufe und „immer nach Angeboten“ suche. Vor allem die hohen Obst- und Gemüsepreise machten ihr zu schaffen: „Ich will doch meine Kinder gesund ernähren.“ Eine 48 Jahre alte Frau, die Bürgergeld empfängt und mit ihrem Chihuahua durch die Plattensiedlung spaziert, sagt: „Jetzt muss ich jeden Cent nicht mehr nur zweimal umdrehen, sondern drei- bis viermal.“ Den Cappuccino vom Discounter, den sie immer so gern getrunken habe, könne sie sich nun nicht mehr leisten. „Ich verzichte quasi auf alles“, sagt sie.

Das Einzige, was Menschen mit geringen Einkommen jetzt helfen würde, sind schlichtweg höhere Einkommen. Daher fordert der Paritätische die Bundesregierung dazu auf, „umgehend“ ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen. Neben Bafög, Wohngeld und Altersgrundsicherung müsse das Bürgergeld angehoben werden, von 502 auf 725 Euro. Das wünscht sich auch die Frau mit dem Chihuahua aus Leipzig-Grünau. „Die 502 Euro reichen nicht zum Leben.“

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