Ralf Leonhard schaut in die Kamera

September,2022 Foto: Sophie Kirchner

Nachruf:Von Nicaragua bis Wien

Der langjährige taz-Korrespondent und Zentralamerika-Experte Ralf Leonhard ist überraschend gestorben.

Ein Artikel von

22.5.2023, 17:51  Uhr

Zum ersten Mal bin ich Ralf Leonhard unter einer Kokospalme in Managua begegnet. Es war Anfang der 1980er Jahre. Die Hauptstadt Nicaraguas stand im Fokus der Weltpolitik, Ralf hatte in Wien sein Studium an der Diplomatischen Akademie abgeschlossen. Doch die noch junge sandinistische Revolution in Nicaragua, die auf den Sturz der Somoza-Diktatur 1979 folgte, faszinierte ihn mehr als die Aussicht auf einen Job in einer österreichischen Botschaft.

Das Angebot, für die taz aus Zentralamerika zu berichten, nahm er sofort an. In Nicaragua wehrte sich das revolutionäre Regime gegen die von den USA finanzierte und ausgerüstete bewaffnete Konterrevolution, in El Salvador und Guatemala tobten Bürgerkriege. Es gab viel zu schreiben, und Ralf schrieb viel. Zentralamerika war ein Schwerpunkt der taz-Berichterstattung. Schließlich sammelte die Zeitung damals Geld für Waffen für die salvadorianische Guerilla.

Als Lateinamerikaredakteur bin ich in den 1980er Jahren oft nach Zentralamerika gereist. Und immer hat Ralf, der mit Indiana, seiner nicaraguanischen Frau, und ihrer Tochter Alfa in einem bescheidenen Häuschen der Hauptstadt lebte, mir ein Bett bezogen. Und ich war beileibe nicht der Einzige, der bei ihm auftauchte. Viele sind bei ihm abgestiegen: Journalisten, Mitglieder von Solidaritätsgruppen und auch etliche von Neugier getriebene Revolutionstouristen.

Hin und wieder fanden im kleinen Innenhof von Ralfs Haus hochklandestine Zusammenkünfte statt. Da waren spätabends gewichtige Vertreter der verschiedenen, unter dem Dach der Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) zusammengeschlossenen Gruppen der salvadorianischen Guerilla angereist, um sich das Geld aufzuteilen, das ein taz-Redakteur vorbeibrachte. Ralf, ein stets korrekter Zeitgenosse, war dann der unparteiische Aufpasser und schaute, dass es mit rechten Dingen zuging. Als ich einmal mit rund 200.000 Dollar in bar auftauchte, verstaute ich das Geld vorsichtshalber in zwei unauffälligen Plastiktüten unter dem Bett und nahm verschiedene Termine in der Stadt wahr. Als ich am Abend zurückkehrte, fragte mich Ralf besorgt, wo zum Teufel ich denn die Dollars deponiert hätte. „Na ja, unter dem Bett.“ Ralf erbleichte.

Heiße Köpfe und köstlicher Rum

Aber die Greenbacks lagen noch immer da, unangetastet. Die Putzfrau, die just am Morgen zum Saubermachen gekommen war, hatte sie wohl nicht entdeckt. Dass der bescheidene Ralf, der damals im Wesentlichen von dem kargen taz-Gehalt lebte, überhaupt eine Putzfrau beschäftigte, erstaunte mich. Erst später wurde mir klar, dass von einem Europäer, ob arm oder reich, erwartet wird, dass er Einheimischen Arbeit gibt.

Mit Ralf konnte man bis spät in die Nacht diskutieren, über die große Politik und über die Probleme der kleinen Leute in seiner Nachbarschaft. Er war ein streitbarer Mensch, kritisch gegenüber den Solidaritätskomitees und doch um eine solidarische Berichterstattung bemüht.

Während wir uns beim Flor de caña, dem köstlichen nicaraguanischen Rum, die Köpfe heißredeten, hatte draußen vor der Haustür schon ein mit einer Machete bewaffneter Wachmann Stellung bezogen. Immerhin gab es im Viertel trotz der nahen Residenz von Daniel Ortega, damals weithin geachteter Präsident, heute weithin isolierter Diktator, Hauseinbrüche, Überfälle, Kleinkriminalität. Wenn ich von einem Treffen spät bei Ralf eintraf, schlief der Wachmann oft. Für Ralf kein Kündigungsgrund. Ralf hatte ein großes Herz.

Ralf Leonhard als junger Mann mit Bart und Brille

1985 als Korrespondent in Nicaragua Foto: privat

Als ich noch taz-Redakteur war, aber auch später, als ich für andere Medien arbeitete, hat mir Ralf immer mit Kontakten geholfen, viele Türen geöffnet, und manchmal hatte ich das Glück, mit ihm zusammen auf Reportagereise zu gehen. Er stellte mir in San Salvador den Jesuiten Ignacio Ellacuría vor, damals Rektor der Zentralamerikanischen Universität, später gefoltert und ermordet von einer rechten Todesschwadron. Mit einem kleinen, für das Gelände untauglichen Auto quälten wir uns über holprige Straßen in die Berge El Salvadors, in die abgelegenen Gebiete, die von der Guerilla kontrolliert wurden.

Und wenn das Auto schlapp machte, hämmerte Ralf auf Zündkerzen, hantierte am Motor und legte sich unters Fahrgestell, als ob er gelernter Kfz-Mechaniker wäre und nicht gelernter Diplomat. Mit der Machtübernahme der antisandinistischen Opposition in Nicaragua 1990 und dem Friedensschluss in El Salvador 1992 erlahmte in Deutschland das Interesse an Zentralamerika. Revolution und Krieg machen nun mal mehr Auflage als die Mühen der Ebene. Noch jahrelang hatte die taz ihren Korrespondenten im verschlafenen Managua, aber Ralf musste nun sein Einsatzgebiet erweitern. So berichtete er zusätzlich aus dem andinen Raum, vor allem aus Kolumbien. Kolumbianerin war schließlich auch Estrella, seine zweite Lebensgefährtin.

1996 kehrte Ralf nach fast zwei Jahrzehnten Lateinamerika nach Europa zurück, in seine Heimatstadt Wien – mit seinen beiden Kinderrn Alfa und Esteban. Für die taz schrieb er weiterhin über Lateinamerika, wohin er jährlich mehrfach reiste, nun aber auch vermehrt über Österreich und Ungarn. Auch in Wien war er in der Solidaritätsarbeit engagiert.

Er arbeitete für das Südwind-Magazin, eine österreichische Publikation, die seit 24 Jahren über die Probleme des Globalen Südens berichtet, erstellte für NGOs und Stiftungen Analysen über die Lage in Zentralamerika, aber auch die Entwicklung in Sri Lanka, das er nach dem Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs 2009 oft bereiste. Und er verfasste ein Buch über den weltweiten Rohstoffhandel und über die Rolle der Spekulanten bei dem Kampf um seltene Rohstoffe, die als „Drohstoffe“ eingesetzt würden.

2 Männer mit Bärten und in Uniform blicken von einer Brüstung

Nicaragua 1985: Leonhards Foto von den Revolutionären Bayardo Castaño und Lenín Cerna Foto: Ralf Leonhard

In Wien habe ich Ralfs Gastfreundschaft nicht weniger genossen als in Managua. Der Rückkehrer lud mich zum Heurigen ein, erklärte mir mit Engelsgeduld die Fallstricke der österreichischen Politik und die angeblichen Abgründe einer österreichischen Seele, an die er natürlich nicht glaubte. Und bis in die jüngste Zeit rief mich Ralf immer an, wenn er zu Treffen der Auslandsredaktion in die taz-Zentrale kam. Wie in Managua diskutierten wir auch in Berlin bis spät in die Nacht. Da bestand zwar oft die Gefahr, in Erinnerungen an die alten Zeiten zu schwelgen, aber lieber sprach Ralf über aktuelle Probleme, über die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, des Präsidentenpaars von Nicaragua, über den Populismus von Viktor Orbán und über den Krieg in der Ukraine.

Und wie immer redete er langsam, abwägend, bedächtig und, wie man es von Wienern kennt, leicht näselnd. Vor allem aber bestach mich ein Charakterzug, der unter Journalisten höchst selten ist. Ralf war der uneitelste Mensch, der mir je begegnet ist. Ironie war ihm nicht fremd, vor allem nicht Selbstironie. Und dann blitzte manchmal sein schelmisches Lächeln auf, das verriet, dass er mehr wusste, als er sagte. Dahinter verbarg sich dann oft eine unausgesprochene Kritik an jenen, die mehr sagen, als sie wissen.

Mit Ralfs überraschendem Tod verliert die taz eine gewichtige Stimme.

Thomas Schmid war ab 1979 bei der taz, 1995 und 1996 als Chefredakteur.

Mehrere Menschen stehen im Kreis und halten Gläser in der Hand

Ralf Leonhard (rechts) zu Besuch in der taz Foto: privat

„Hallo, hier meldet sich das Studio Wien-Budapest“

Mein letztes Telefonat mit Ralf Leonhard liegt erst eine Woche zurück, doch jetzt scheint es gefühlt eine kleine Ewigkeit her zu sein. „Guten Tach, Frau Redakteurin“, sagte Ralf wie immer mit leicht spöttelndem Unterton – eine Anspielung auf meine, nicht nur sprachlich, norddeutsche Herkunft, die zu verleugnen sinnlos ist. Genauso amüsierte er sich übrigens auch, wenn bei einigen Worten in seinen Texten Übersetzungshilfe vonnöten war – wobei die „Angelobung“ hochrangiger Po­li­ti­ke­r*in­nen“ noch zu den harmloseren Beispielen zählte. Aber er konnte auch über sich selbst lachen, besonders immer dann, wenn ich wegen seiner zeitverzögerten Antworten das Gespräch unterbrochen wähnte.

Dass Ralf, es sei denn, er hatte sich vorher abgemeldet, nicht erreichbar war, kam fast nie vor. Falls das doch einmal passierte, nahm seine Frau Estrella die Anrufe entgegen. „Ralfito ist gerade nicht da“, sagte sie und lachte stets dabei. Aber er habe das Handy mitgenommen – eine Art Carte blanche oder Einladung, ihn auch noch im Supermarkt oder auf dem Naschmarkt erwischen zu können, wenn es denn pressierte.

Ich selbst lernte Ralf 1996 kennen – zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit einem Jahr in der Auslandsredaktion der taz tätig und für Osteuropa zuständig. Ralf hatte sich nach über zehn Jahren als taz-Korrespondent für Zentralamerika dafür entschieden, wieder nach Österreich zu ziehen, wenngleich er Zentralamerika nie aus den Augen verlieren sollte. Diese Entscheidung bescherte uns nicht nur einen wunderbaren Kollegen an einem neuen Einsatzort, sondern mir einen Zuwachs bei meinen zu betreuenden Kol­le­g*in­nen im Ausland. Nicht, dass Österreich plötzlich zu Osteuropa gehört hätte, doch es war wohl Sympathie auf beiden Seiten. Und so wuchs irgendwie zusammen, was anfangs nicht zusammenzugehören schien. Oft nannte mich Ralf „Towaritscha“ – das russische Wort für Genossin, und das blieb so.

Dank Ralf bekam die taz schon recht bald eine detaillierte und fundierte Berichterstattung über die Alpenrepublik, die zumindest noch zu dieser Zeit in der deutschen Presselandschaft ihresgleichen suchte. Wer sich damals für den Ortstafelstreit interessierte – eine jahrzehntelange Kontroverse im Bundesland Kärnten über die zweisprachige Beschriftung von Verkehrsschildern auf Deutsch und Slowenisch – kam an der taz nicht vorbei. Überhaupt wurde Kärnten dank dem Rechtsaußen Jörg Haider für Ralf zu einem seiner wichtigsten Betätigungsfelder. Nolens volens wurde er ab den Nullerjahren zu einem Chronisten der Skandale der Republik. Das galt für Fälle sexuellen Missbrauchs im Kloster von St. Pölten genauso wie den Verkauf der Bank Hypo Alpe Adria oder die korrupten Machenschaften des ehemaligen konservativen Finanzministers Karl-Heinz Grasser.

Ebenfalls in den Nullerjahren weitete Ralf auf eigenen Wunsch seine Berichterstattung auf Ungarn aus. Seine Begrüßungsformel „Hier Studio Wien“ verwandelte sich in „Hier Studio Wien-Budapest“. Fortan besuchte er das Land regelmäßig, nicht nur, um sich an dem sich immer autoritärer gebärdenden Regierungschef Viktor Orbán abzuarbeiten, sondern auch um beim Thema Menschenrechtsverletzungen, wie im Fall der Roma, genau hinzusehen. Mehr als einmal war das Bedauern zu hören, nicht auch noch zumindest ein wenig Ungarisch gelernt zu haben.

In all den Jahren, die wir zusammengearbeitet haben, reichte es immer wieder auch für ein persönliches Treffen. Unvergessen ist mir das WM-Viertelfinalspiel im Sommer 2010 zwischen Argentinien und Deutschland, das wir in brütender Hitze in Berlin anschauten und das mit 4:0 an Deutschland ging. Müßig zu fragen, wem Ralf damals die Daumen drückte.

Am 10. Oktober 2021 veröffentlichte die taz von Ralf einen langen Beitrag über den ehemaligen politischen Senkrechtstarter und ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz, den eine beachtliche Ansammlung von Skandalen schließlich sein Amt kostete. Der Text, wie ein Theaterstück gehalten, ist unter anderem überschrieben mit „Ein Drama in fünf Akten“. Große Worte – um den Schmerz und die Fassungslosigkeit über den plötzlichen Verlust von Ralf zu beschreiben, fehlen sie.

Barbara Oertel ist Co-Ressortleiterin im Ausland.

Eine spanische Übersetzung dieses Nachrufs auf Ralf Leonhard finden Sie hier.

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