Soziologe über Deutschtürken: „Erdoğans Fans nicht überschätzen“

Erdoğans Anhänger in Deutschland sind zwar laut, aber eine Minderheit, sagt der Soziologe Özgur Özvatan. Er warnt vor pauschaler Verurteilung.

Menschen umarmen sich und schwingen türkische Fahne vor einem Plakat des türkischen Präsidenten

Freude auf dem Ku'damm über den Wahlsieg Erdoğans Foto: Omer Messinger/getty images

taz: Herr Özvatan, warum haben mehr als zwei Drittel der Deutschtürken Erdoğan gewählt?

Özgur Özvatan: Das stimmt so nicht. Es gibt ungefähr drei Millionen Türkeistämmige. Etwa 1,5 Millionen waren wahlberechtigt, etwa 730.000 haben abgestimmt und davon etwa 470.000 für Erdoğan. Das sind viele Menschen, aber weit entfernt von zwei Dritteln.

Trotzdem – warum haben so viele für Erdoğan gestimmt?

Erdoğan ist in den letzten zehn Jahren immer wieder in Deutschland gewesen. Er hat, was die Aufmerksamkeitsökonomie angeht, gut gearbeitet. Und er hat den Menschen hier das Gefühl gegeben, dass sie zählen, dass er, die Führungskraft, sich für sie einsetzt. Er hat gesagt, er würde die Deutschtürken vor Assimilationsdruck schützen. Damit hat er gepunktet. Die Opposition war hingegen hier kaum öffentlichkeitswirksam präsent.

Özgür Özvatan

38, arbeitet als Soziologe am Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der HU Berlin.

Hängen das Gefühl, in Deutschland ausgegrenzt zu sein, und Sympathien für Erdoğan zu haben zusammen? Gibt es Belege?

Wir haben keine direkten Daten dafür, dass Rassismuserfahrung in Deutschland Erdoğan in die Hände spielt. Aber Rassismuserfahrungen werden politisch ausgeschlachtet, wenn Präsident Erdoğan über Islamophobie im Westen spricht. Es gibt auch keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen geringerer Verbundenheit mit Deutschland und der Wahlentscheidung. Also – nein.

Erdoğan hat eine Autokratie begründet, die Pressefreiheit abgeschafft, die Justiz zu seinem Instrument gemacht. Warum ist das so vielen egal?

Erdoğan kommt auch im Gewand des Antikolonialen daher. Er erweckt den Eindruck, die Türkei von den Fesseln des Westens zu befreien und endlich auf Augenhöhe zum Westen zu sprechen. Er spielt in der internationalen Politik eine relevante Rolle, etwa als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine. Dafür sind einige Diasporatürken, die Diskriminierungserfahrungen erlebt haben, empfänglich. Es erzeugt das Gefühl, endlich ernst genommen zu werden. Seine identitätspolitisch reaktionäre Außenpolitik spricht gleichzeitig Wähler in der Türkei und in der Diaspora an.

Sind Erdoğan-WählerInnen Anhänger des Autoritären – oder übersehen sie die Repression einfach?

Viele halten Illiberalisierung und Repressionen für vorübergehende, notwendige Maßnahmen, um Terrorismus und Unordnung zu beseitigen. Danach werde die Gesellschaft wieder liberaler und offener. Das ist natürlich eine Illusion. Denn die Illiberalisierung der Demokratie unter Erdoğan befindet sich in einer Radikalisierungsspirale.

Es gab Autokorsos von Erdoğan-Anhängern. Cem Özdemir hält diese Demos für eine „Absage an unsere pluralistische Demokratie“. Einverstanden?

Nein. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns von lauten Minderheiten beeindrucken zu lassen und Problemlagen größer zu machen, als sie sind. Die Autokorsos intendieren mediale Aufmerksamkeit. Aber ich plädiere dafür, jene Mechanismen zu vermeiden, die laute Minderheiten nutzen, um größer zu erscheinen, als sie sind. Sie profitieren davon, als Giganten wahrgenommen zu werden, die sie nicht sind. Wir sollten lieber mehr über die demokratische Opposition in der Türkei und in Deutschland reden.

Glauben Sie, dass scharfe Kritik, wie sie Özdemir formuliert, der Aufklärung nutzt? Oder provoziert dies gerade das Gegenteil: Wir lassen uns doch nicht vorschreiben, wen wir wählen?

Diese Kritik am Wahlverhalten verstärkt bei vielen das Gefühl, im deutschen medialen politischen Diskurs nicht vertreten zu sein. Und Minister Özdemir gilt für viele leider als jemand, der gehört werde, weil er den Deutschen nach dem Mund rede. Klüger, als nur verurteilend über die Erdoğan-Anhänger zu reden, wäre, die Motivlagen unter dem Gesichtspunkt transnationaler Lebensrealitäten zu bewerten. Mit Blick auf die Türkei unter Erdoğan lässt sich die reaktionäre Identitätspolitik sachlich und weniger pauschalisierend kritisieren.

Olaf Scholz hat Erdoğan gratuliert und sofort eingeladen. Ist das die richtige Botschaft?

Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern der Türkei, und die Türkei ist mit Blick auf Migrationsabkommen bisher eine wichtige Partnerin. Das ist die realpolitische Konstellation. Unter hiesigen Erdoğan-Wählern kann es zudem als Heuchelei empfunden werden, wenn sie hier medial scharf verurteilt werden und im gleichen Atemzug Kanzler Scholz Erdoğan nach Berlin einlädt. Für viele Oppositionelle kann die Einladung wie ein Schlag ins Gesicht wirken.

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