DAX feiert Rekordhoch: Börse und Realität entkoppeln sich

Während die Wirtschaft schwächelt, ist an den Börsen Party. Anleger fühlen sich immer reicher, doch das ist eine Illusion.

Börsensitze mit Menschen und Bildschirmen

Börse in Frankfurt am Main Foto: reuters

Der deutsche Aktienindex DAX hat einen neuen Rekord gefeiert: Am Freitag nach Christi Himmelfahrt stieg er auf 16.331 Punkte. Inzwischen bröckeln die Kurse zwar etwas, aber seit Jahresanfang hat der Index um fast 16 Prozent zugelegt.

Dieser Anstieg mutet etwas seltsam an, denn die deutsche Wirtschaft schwächelt derzeit. 2023 dürfte das Wachstum bei ganzen 0,4 Prozent liegen, wie die Bundesregierung schätzt. Die Unternehmen machen also keine höheren Umsätze, aber ihr Aktienwert explodiert. Wie passt das zusammen?

Was wie ein Gegensatz aussieht, ist keiner. Die Anleger interessieren sich nur am Rande für die Firmenerträge, haben sie doch längst ein neues Angstthema entdeckt: die Inflation. Die Geldentwertung dürfte in der Eurozone in diesem Jahr bei 5,8 Prozent liegen, prognostiziert die EU-Kommission.

Aus der Sicht der Anleger ist klar: Nichts ist so schlimm, wie sein Geld auf den Konten verschimmeln zu lassen und beim Wertverlust zuzusehen. Die Zinsen sind zwar gestiegen, gleichen aber die Inflation bei Weitem nicht aus. Also rein in die Aktien! Dort besteht zumindest die Hoffnung, dass die Kurse zulegen und die Geldentwertung mehr als kompensieren.

Börsenkurse aufzupumpen ist ziemlich einfach

Allerdings kann die Inflationsangst nur zum Teil erklären, warum die Kurse nach oben schießen. Denn die Inflationsraten sind erst ab 2021 nennenswert gestiegen, aber die Börsenkurse legen schon seit 2009 zu. Seit der letzten Finanzkrise pumpt sich also wieder eine Aktienblase auf.

Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich der DAX mehr als verdoppelt. Die Realwirtschaft ist in dieser Zeit keineswegs um mehr als 100 Prozent gewachsen, sondern nur um schlappe 12 Prozent. Die Börsen haben sich von der echten Welt komplett entkoppelt und mit der Realität nichts mehr zu tun.

Börsenkurse aufzupumpen ist nämlich ziemlich einfach. Es ist nur relativ wenig zusätzliches Kapital nötig, um den DAX nach oben zu treiben, weil es zu einem ewigen Kreislauf des Geldes kommt. Der Zusammenhang ist schlicht: Wenn jemand eine Aktie kaufen will, muss ein anderer sie verkaufen.

Der Neubesitzer ist zwar sein Geld los – aber die entsprechende Summe landet beim früheren Eigentümer der Aktie, der sich jetzt überlegen muss, wie er sein Geld neu anlegt. Die bittere Ironie: Wahrscheinlich wird der ratlose Ex-Aktienbesitzer wieder Aktien erwerben, weil sie ja ständig an „Wert“ gewinnen. Die Spekulation nährt sich selbst.

Anleger nehmen Börseninflation nicht wahr

Doch in Wahrheit nimmt der Wert der Aktien nicht zu, denn Unternehmen wie VW oder BASF verkaufen ja nicht mehr Autos oder Chemieprodukte, nur weil ihre Börsenkurse steigen. Stattdessen leiden auch die Börsen an einer Inflation, weil die Preise für die Aktien zulegen, ohne dass es einen echten Mehrwert gäbe. Fachleute sprechen von einer sogenannten Vermögenspreisinflation. Sie wird von den Anlegern jedoch nicht wahrgenommen, die sonnig glauben, sie würden „reicher“.

Wenn Brot heute einen Euro und morgen zwei Euro kostet, sind die Käufer im Supermarkt entsetzt. Sie erkennen sofort, dass die Inflation bei 100 Prozent liegt. Wenn jedoch eine Aktie erst 200 Euro und irgendwann 400 Euro kostet, dann ist das für die Börsianer keine Inflation, sondern eine „Wertsteigerung“.

Aber diesen „Wert“ gibt es nur, solange sich immer wieder Käufer finden, die bereit sind, überteuerte Aktien zu erwerben. Meist geht das gut, denn auf den Herdentrieb der Börsianer ist Verlass. Sie kaufen, wenn alle kaufen, und fühlen sich kollektiv reich. Die Erfahrung lehrt zwar, dass es irgendwann zum Crash kommt – aber bis dahin ist Party auf den Finanzmärkten.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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